Berichte über Missbrauchsopfer sind leider an der Tagesordnung, aber zur Aufarbeitung der Skandale zwingend nötig – selbst wenn sie bei einigen Leserinnen und Lesern alte Wunden aufreissen.

Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und deren Umfeld beschäftigen weiter – uns als Zeitung und damit auch unsere Leserinnen und Leser. Dieser Tage berichteten wir über zwei Bücher, in denen mutige Missbrauchs­opfer ihre Erfahrungen verarbeiteten. Erwartungsgemäss blieben auch kritische Reaktionen nicht aus. Zwei Argumentationsmuster waren mir dabei schon geläufig, ein drittes war neu – und in meinen Augen durchaus stichhaltig.

Eine erste Gruppe von Leserinnen und Lesern verbittet sich quasi apodiktisch Kritik am Monument der katholischen Kirche. Nach dem Motto: Wenn niemand darüber redet, ist auch nichts passiert. Diese Taktik wurde bekanntlich lange verfolgt und ist letztlich verantwortlich für das enorme Ausmass des Skandals. Für mich absolut keine Option!

Eine zweite Gruppe beruft sich auf die Tatsache, dass Missbrauchsfälle längst nicht nur ein Problem der katholischen Kirche sind, sondern auch anderswo vorkommen. Dieser Hinweis ist zwar so richtig wie tragisch. Wenn er aber dazu dient, die aktuellen Missstände zu relativieren, ist dies so genannter Whataboutism. Das ist neudeutsch und lässt sich ungefähr mit Ablenkungs­manöver übersetzen.

Dann schrieb uns eine Leserin ein berührendes Mail, das nicht zur Publikation bestimmt ist. Als Direktbetroffene schildert sie die schlechten Erinnerungen und Gefühle, die bei ihr jedes Mal hochkommen, wenn sie von ähnlichen Fällen liest. Sie steht mit Sicherheit für eine ganze Reihe von Opfern, die sich mit ihrem Schicksal auf irgendeine Art und Weise arrangiert haben. Sei es mit Hilfe von Therapien, sei es durch Verdrängung, sei es dank der Fähigkeit, mit einem Thema abschliessen zu können.

Sie merken es: Wir sind bei der dritten Gruppe angelangt. Diese Menschen belasten wir mit unserer Berichterstattung, was ich sehr bedauere. Umso mehr, als dagegen aus Zeitungssicht leider wenig zu tun ist. Denn würden wir auf weitere Berichte verzichten, wären wir wieder auf Feld eins und würden letztlich zur «bewährten» Vertuschungsstrategie beitragen, gar weitere Opfer mitverantworten.

Darum hier ein Rat, den ich als Journalist eigentlich nicht gerne gebe: Bei Gefahr auf schlechte Gefühle (ausnahmsweise) schnell wegklicken!

QOSHE - Bei Gefahr wegklicken! - Christian Peter Meier
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Bei Gefahr wegklicken!

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06.01.2024

Berichte über Missbrauchsopfer sind leider an der Tagesordnung, aber zur Aufarbeitung der Skandale zwingend nötig – selbst wenn sie bei einigen Leserinnen und Lesern alte Wunden aufreissen.

Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und deren Umfeld beschäftigen weiter – uns als Zeitung und damit auch unsere Leserinnen und Leser. Dieser Tage berichteten wir über zwei Bücher, in denen mutige Missbrauchs­opfer ihre Erfahrungen verarbeiteten. Erwartungsgemäss blieben auch kritische Reaktionen nicht aus. Zwei Argumentationsmuster waren mir dabei schon geläufig, ein drittes war neu – und........

© Luzerner Zeitung


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