Seit dem Angriff der Hamas auf Israel grassiert in ganz Europa und auch in der friedfertigen Schweiz der Antisemitismus. Es ist höchste Zeit, Flagge zu zeigen, schreibt der Chefredaktor der «Schweiz am Wochenende».

Die Pendler warten im Zürcher Hauptbahnhof auf die S7 Richtung Rapperswil. Die meisten Leute blicken auf ihre Handys, ein Mann telefoniert. Er spricht mit jemandem über «die Juden». Die seien schuld am Krieg. Er bezeichnet sie als «Pack» und sagt Sätze, die nicht zitierbar sind.

Antisemitismus mitten in Zürich, zur Feierabendzeit, am 1. November 2023. Mein Erlebnis ist kein Einzelfall. In Küsnacht ZH entdeckte eine Redaktionskollegin diese Woche Hakenkreuz-Graffiti und üble Parolen. Vor allem aber: Drohungen gegen Juden häufen sich. Die Meldestelle für Antisemitismus hat seit dem 7. Oktober, als die Hamas ihr Massaker gegen Israeli begann, 50 Vorfälle erfasst, darunter vier Tätlichkeiten. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein. Der Nachrichtendienst des Bundes bezeichnet das Sicherheitsrisiko für jüdische Einrichtungen als erhöht.

Unsere Redaktion hat mit Jüdinnen und Juden gesprochen. Viele fühlen sich nicht mehr sicher. Es ist unfassbar: Schweizer Staatsangehörige müssen Übergriffe in der eigenen Heimat fürchten, einfach darum, weil sie jüdischen Glaubens sind. Man kann es nicht länger leugnen, Antisemitismus ist auch in unserer Gesellschaft verbreitet.

Es gibt Stimmen, die relativieren das. Es seien bloss wenige Fälle. Und dass an propalästinensischen Demonstrationen Parolen zu hören und Symbole zu sehen sind, die Israel das Existenzrecht absprechen, habe nur einen Grund: Das israelische Militär töte seit Tagen im Gazastreifen unschuldige Palästinenser. Diese Erklärung ist doppelt falsch.

Sie haben in Israel 240 Menschen entführt und 1400 bestialisch getötet, auch Babys und Kinder. Man weiss es ja eigentlich. Aber vier Wochen nach dem Massaker ist es leider nötig, an den Horror zu erinnern und zum Kampf gegen den Antisemitismus aufzurufen.

Es war ein wichtiges Signal, dass Vertreter aller Parteien vorgestern in Zürich an der Demonstration teilgenommen haben. Dass ein SP-Nationalrat aber davor am Radio die falsche Behauptung aufstellte, Israel bombardiere im Gazastreifen «wahllos», zeigt, wie anfällig vor allem Linke für die Täter-Opfer-Umkehr sind.

Antisemitismus ist immer schlimm, ob er von links, von rechts oder aus islamischen Kreisen kommt. Besonders verstörend wirkt jedoch, wie wenig Solidarität mit Israel von links bekundet wird. Ein demokratischer, fortschrittlicher Rechtsstaat wird von Mördern und Vergewaltigern angegriffen, die dort, wo sie regieren, Frauen unterdrücken und Nicht-Heterosexuelle töten. Wenn Minderheiten gepeinigt werden, formieren sich bei uns schnell Proteste; warum aber nicht, wenn es die Hamas tut?

Israel verdient unsere Solidarität genauso wie die Ukraine. Es geht wieder um dasselbe: darum, auf der Seite der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte zu stehen. Nach Russlands Invasion wehten viele Fahnen mit den Farben der Ukraine. Jetzt sollten wir die Israel-Flagge hissen. Und alles tun, damit sich in der Schweiz jede und jeder sicher fühlen kann.

QOSHE - Stoppt die Antisemiten! Es darf nicht sein, dass sich Juden in der Schweiz nicht sicher fühlen können - Patrik Müller
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Stoppt die Antisemiten! Es darf nicht sein, dass sich Juden in der Schweiz nicht sicher fühlen können

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04.11.2023

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel grassiert in ganz Europa und auch in der friedfertigen Schweiz der Antisemitismus. Es ist höchste Zeit, Flagge zu zeigen, schreibt der Chefredaktor der «Schweiz am Wochenende».

Die Pendler warten im Zürcher Hauptbahnhof auf die S7 Richtung Rapperswil. Die meisten Leute blicken auf ihre Handys, ein Mann telefoniert. Er spricht mit jemandem über «die Juden». Die seien schuld am Krieg. Er bezeichnet sie als «Pack» und sagt Sätze, die nicht zitierbar sind.

Antisemitismus mitten in Zürich, zur Feierabendzeit, am 1. November 2023. Mein Erlebnis ist kein Einzelfall. In Küsnacht ZH entdeckte eine Redaktionskollegin diese Woche Hakenkreuz-Graffiti und üble Parolen. Vor allem aber: Drohungen gegen Juden häufen sich. Die Meldestelle für........

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