Eines Abends erzählte ein alter Cherokee-Indianer seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt. Er sagte: "Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen. Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.

Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube."

Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragte dann: "Welcher der beiden Wölfe gewinnt?"

Der alte Cherokee antwortete: "Der, den du fütterst."

Die Geschichte von den zwei Wölfen findet sich in dem Buch "Wie wir die Welt sehen" von der Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel. Untertitel: "Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien".

Negative Nachrichten. Davon gab es im Jahr 2023 furchtbar viele. Glaubt man dem alten Spruch "Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten", dann müssten es goldene Zeiten sein für Journalismus.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Immer mehr Menschen meiden Nachrichten. Fast zwei Drittel der erwachsenen Deutschen, die das Internet nutzen, geben an, Nachrichten regelmäßig oder hin und wieder zu meiden - vor allem wegen der vielen schlechten Nachrichten. Das ist ein Ergebnis des Digital News Reports des Reuters Institutes, für den 2023 knapp 94.000 Menschen auf sechs Kontinenten befragt wurden.

Für Journalistinnen und Journalisten ist das herausfordernd: Sie müssen berichten, was geschieht, ohne es zu beschönigen. Sie können niemanden verschonen vor Krieg in der Ukraine, Toten aus Israel oder dem Streit in der deutschen Regierung. Missstände aufzudecken und zu benennen ist und bleibt zentrale Aufgabe von Medien.

Die Frage, wie wir alle grundsätzlich auf die Welt blicken, ist dennoch berechtigt. Menschen in Deutschland, so wirkt es, beklagen lieber Probleme, anstatt Lösungen zu diskutieren. Wir Journalistinnen und Journalisten haben Anteil am Pessimismus, etwa wenn wir auf neun Titelseiten in Folge folgende Schlagzeilen veröffentlichen:

"Pflegedienste in akuter Gefahr" / "Deutsche sind häufiger krank"/ "Pessimismus in der EU wächst" / "Personalnot trifft die Kitas stark" / "Plötzlich fehlen 60 Milliarden Euro" / "Das Milliarden-Loch und die Folgen" / "Immer mehr Firmen gehen pleite" / "Deutschland bleibt digital Mittelmaß" /"Nach Urteil: Energie wird teurer".

Journalistinnen und Journalisten haben gelernt, den Finger in die Wunde zu legen. Es ist ihnen oft keine Nachricht wert, wenn etwas gelingt. Wenn Redaktionen aber bevorzugt den bösen Wolf füttern, nehmen sie in Kauf, dass sie die Welt verzerrt abbilden.

Denn wer Handy und Zeitung beiseitelegt und hinausgeht in die Dörfer, Vereine, Firmen und Familien, der erlebt, wie schön das Leben ist, wie widerstandsfähig, stark, einfallsreich und freundlich Menschen sind. Der gute Wolf ist nahezu immer da – aber selten in den Nachrichten.

Am ehesten finden sich gute Nachrichten übrigens in Lokalmedien, weshalb deren Leserinnen und Leser seltener Nachrichten meiden als andere – auch das ist Ergebnis des Digital News Reports 2023. Dennoch ist eindeutig: Menschen haben Sehnsucht nach guten, zumindest aber konstruktiven Nachrichten. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, an positiven oder lösungsorientierten Nachrichten interessiert zu sein. Angesichts der erdrückenden Nachrichtenlage wünschen sich viele ein Gegengewicht – und etwas Zuversicht.

Und diese Nachrichten gibt es: Beispielhaft zeigt das die Aktion "Zeichen setzen", bei der die Main-Post seit mehr als 20 Jahren bürgerschaftliches Engagement in der Region auszeichnet. All die Menschen, die sich in Vereinen und anderen Organisationen in Unterfranken zusammenfinden, um anderen zu helfen oder Gemeinschaft zu fördern, zeigen, dass es in unserer Gesellschaft möglicherweise besser läuft, als wir in den Nachrichten vermuten könnten.

Journalistinnen und Journalisten können verschiedene Perspektiven zeigen: Sie müssen die Mächtigen kritisch begleiten und Missstände unverblümt benennen. Sie können aber auch Lösungsansätze recherchieren oder zeigen, was gelingt und gut ist. Gerade jetzt nehmen auch wir uns das fürs neue Jahr vor: Denn wenn schlechte Nachrichten normal zu sein scheinen, sind gute Nachrichten erst recht wertvolle Informationen.

Eine gute Nachricht zum Schluss: Unabhängig von allem, was passieren wird, gibt das neue Jahr 2024 allen von uns Gelegenheit, unseren Blick auf die Welt zu überdenken. Man darf dafür ruhig auch einen Klassiker bemühen: "Das Glas ist halb voll" ist ebenso richtig wie "Das Glas ist halb leer".

QOSHE - Wo bleiben die guten Nachrichten? Sie sind fast überall, aber wir sehen sie zu selten - Ivo Knahn
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Wo bleiben die guten Nachrichten? Sie sind fast überall, aber wir sehen sie zu selten

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01.01.2024

Eines Abends erzählte ein alter Cherokee-Indianer seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt. Er sagte: "Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen. Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.

Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube."

Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragte dann: "Welcher der beiden Wölfe gewinnt?"

Der alte Cherokee antwortete: "Der, den du fütterst."

Die Geschichte von den zwei Wölfen findet sich in dem Buch "Wie wir die Welt sehen" von der Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel. Untertitel: "Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien".

Negative Nachrichten. Davon gab es im Jahr 2023 furchtbar viele. Glaubt man dem alten Spruch "Nur schlechte Nachrichten........

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