"Den Traum vom Leben träumen / mitten in all dem Tod... / Träum` doch mit mir das Leben! /gegen diese Not... / Es ist ja nur das Träumen / was das Leben treibt / womit es – hoffend und sterbend / dennoch am Leben bleibt." Dieses Gedicht schrieb Erika Kosse 1999 für mich, als ich – Jugoslawin/Serbin – nach Halt suchte. Ohne sie hätte ich diese tragische Zeit in Berlin kaum überstanden. Unzählige Begegnungen kreuzen unseren Lebensweg. Bei manchen denken wir, wie gut es gewesen wäre, wenn wir sie nie gehabt hätten, für manche sind wir dankbar, auch wenn sie nur kurzzeitig waren und erinnern uns gern daran. Einzelne sind so großartig und außergewöhnlich, dass man diese Menschen für immer bei sich haben möchte.


Erika Kosse (8.8.1935 bis 1.1.2024) - Foto: Peter Betscher

Als in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder Kriege mein Geburtsland erschütterten – Tausende getötet, verstümmelt, in die Flucht getrieben – wurde das Leben in Deutschland für die meisten meiner Landsleute kaum ertragbar. Die deutsche Politik bestimmte, welche der so genannten Jugos gut und welche böse sind, wer Freund und wer Feind ist, Familien zerfielen, Freundschaften zerbrachen; die Politik machte möglich, was man für unmöglich hielt.

In solchen Zeiten muss jeder für sich die Entscheidung treffen, verhalte ich mich ruhig und unauffällig, um nicht das Erreichte zu verlieren, oder erhebe ich meine Stimme gegen das Unrecht, womöglich in einer Gruppe Gleichgesinnter. In so einer Gruppe, „Deutsch-Serbische-Begegnung“, in der sich Menschen vereinten mit dem Ziel, die deutsche Bevölkerung über die aggressive Politik des eigenen Landes gegenüber Jugoslawien aufzuklären, traf ich auf Erika, Dr. Kosse.

Eingangs war ich mir nicht sicher, weshalb sich diese Dame uns anschließen möchte. Nachdem sie sich zu Wort meldete, merkte ich, dass Erika Dinge erkennen und Zusammenhänge herstellen konnte, sie auch in Worte kleidete, die bei solchen Sitzungen nicht unbedingt alltäglich zu hören waren. Über die Zeit erfüllte mich ein Gefühl der inneren Vertrautheit, als wäre ein vor sehr langer Zeit verloren gegangener Teil meines selbst wieder in mich zurückgekehrt. Es entwickelte sich eine sehr starke beidseitige Verbundenheit, die imstande war, alle Hürden zu überwinden.

Erika war nicht nur eine Kämpferin für Gerechtigkeit, für mich war sie viel mehr, ich wuchs mit ihr. Sie hielt mich fest, als ich drohte total abzuheben, weil ich durch beinahe ununterbrochene Aktivitäten meine Wut erdrücken wollte, statt sie zuzulassen und ihr im täglichen Leben Platz zu geben. So fing ich an, bei den täglichen Mahnwachen und Demonstrationen meine Wut zu kanalisieren und ihr in guten Reden den Ausdruck zu verleihen. Erika fing mich auf, bevor ich fiel, als die Trauer drohte, mich zu ersticken und ich versuchte, eine Stütze im Christlichen Glauben zu finden. Sie lehrte mich, mir den religiösen Dogmatismus nicht überstülpen zu lassen und meinen eigenen Weg zu suchen. Sie unterstützte mich selbstlos und unermüdlich bei jeder meiner Aktionen, manchmal am Rande ihrer eigenen Kräfte, tags und viele Male auch nachts wusste ich sie am meiner Seite, und das tat gut und gab mir Kraft.

Wir weinten und lachten, aber wir stritten nie. Ich schätzte Erikas Aufrichtigkeit und ihre korrekte Offenheit. Kritisieren konnte sie schon, aber nie verletzend oder minderwertig behandelnd. Jahrzehntelang war sie ein fester Bestandteil meines, nicht nur politischen, Lebens, unsere Gespräche – jedes für sich eine Besonderheit, die mit der Zeit immer intensiver, tiefsinniger, wurden, manchmal auch dem Übersinnlichen nahe spirituell, schafften eine Verbundenheit über den Tod hinaus.

Am 8.8.1935 wurde Erika in Trier geboren. Ihr Vater, religiös evangelisch, stammte aus Pommern, kam aus dem ersten Weltkrieg kriegsversehrt zurück und heiratete Erikas 18 Jahre jüngere Mutter, streng katholisch, aus Westfalen – ungeachtet aller Unterschiede. Dadurch dass der Vater Reichsbahnoberrat wurde, beginnt für Erika und ihre Familie, eine Odyssee, die immer damit verbundene neue Wohnorte und Lebensumstände brachte, auch während des Krieges durch Vertreibung und Bombardierungen erzwungen.

Erikas Erinnerungen an endlose Flüchtlingstrecks, die durch das Dorf zogen, in dem sie für eine längere Zeit im Bahnhofsgebäude eine Wohnung hatte, an die Zugwaggons voller Flüchtlinge, die fortwährend durch den Bahnhof durchfuhren, sind in mir heute noch gegenwärtig und lebendig. Aber auch, wie sie, trotz des Krieges, das Landleben im damaligen Dorf und die Natur genießen konnte. Der feinfühlige Umgang ihrer Mutter, ihre schützende Liebe, gab Erika die Geborgenheit, die sie als Kind brauchte; die Mutter bemühte sich immer, aus allem das Beste zu machen und vermittelte, dass alles Schwere – einfach und tapfer – zu tragen sei, was auch in Erikas Leben bezeichnend war.

Nach dem Tod des Vaters 1946 konvertierten Erika und ihre Brüder, ursprünglich evangelisch, auf Wunsch der Mutter zum Katholizismus. So geriet Erika in ihrer Jugend durch die Rituale des katholischen Glaubens in einen großen inneren Zwiespalt. Erst Jahrzehnte später, in Berlin, entschied sie, sich wieder einer kirchlichen Gemeinde zuzuwenden und leistete jahrelang dort sehr geschätzte Arbeit.

Nach dem Abitur begann sie im selben Jahr das Studium für das Lehramt an Volksschulen. Im Alter von nur 21 Jahren begann sie als Lehrerin ihren Schuldienst und wechselte berufsbedingt mehrere Tätigkeitsorte. Sie heiratete, nachdem die Mutter 1958 starb, und es folgt eine zweite Studienzeit in Erziehungswissenschaften, Psychologie, Germanistik und Philosophie. Sie unterrichtete an der pädagogischen Hochschule, hielt Vorträge im Rahmen der Erwachsenenbildung, war Lehrbeauftragte an der Sozialpädagogischen Fachhochschule in Dortmund und promovierte in Pädagogik mit dem Thema “Grundmodelle pädagogischer Weltanschauung“.

Nach eigenem Wunsch, erzählte sie, hätte sie lieber Kinder bekommen und aufgezogen, was sich jedoch nicht ergab. So richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf vietnamesische kriegsverletzte Kinder, die in Deutschland medizinisch behandelt wurden, und entschied, mit der internationalen Kinderhilfsorganisation „Terre des Hommes“ während des Vietnamkrieges, 1973, nach Saigon zu gehen. Dort lernte sie in der Entwicklungshilfe einen einheimischen Kollegen kennen, der mit seinen Englischkenntnissen und aufgrund seiner lebensnahen und umfassenden Verbindung zu Land und Leuten ihr Companion und Counterpart innerhalb der Arbeit wurde.

Der Aufenthalt in Vietnam war ein neuer Wendepunkt in Erikas Leben. Täglich verstümmelte Menschen, viele Frauen und Kinder darunter, die Opfer von Landminen, Napalmbomben und Entlaubungsmitteln wurden, miterleben zu müssen, erschütterte Erika zutiefst. Auf der anderen Seite, entstand eine lebendige Beziehung zwischen ihr, ihrem Kollegen und seiner kleinen Tochter To, um die sie sich mit großer Zuwendung an ihren freien Tagen kümmerte.

Als zum Ende des Vietnamkrieges, im April 1975, die Order kam, das Land zu verlassen, nahm Erika auf das Drängen ihres lieb gewonnenen Kollegen seine kleine Tochter mit nach Deutschland. In Deutschland angekommen begann für beide eine turbulente aber doch erfüllende Zeit, die sie später auch mit ihrer über alles geliebten Enkelin Nina ausleben durfte – am Anfang eine glückliche Zeit, erfüllt mit Spielen und Lachen, später durch tiefe Gespräche zu Leben und Politik, sowie über Erikas Gedichte und ihre kreativen Schreibfähigkeiten.

Mit dem Beginn ihrer Rentenzeit wurde Erika gezielter politisch aktiv, insbesondere bei der „Deutsch-Serbischen-Begegnung“ und der „Friko Berlin“, später auch als eifrige Unterstützerin der „Varvarin-Klage“ und der „Mütter gegen den Krieg, Berlin/Brandenburg“. Erika wusste, dass sie in politischen Debatten mit ihren warnenden, unbequemen Reden, mit Ihrer „Nichteinsicht“ oft anecken würde, nichtsdestoweniger ging sie manches Mal in Rage, in klare und offene Konfrontation. Weder das hohe Alter noch der Rollator hinderten Erika – bevor sie schwer krank wurde – daran, an Mahnwachen, Friedensmärschen und Demonstrationen teilzunehmen und auch bei den alljährlichen Gedenkfeiern für die ehemaligen jugoslawischen Kriegsgefangenen in Luckenwalde, auf dem Rollator sitzend, ihre Reden und Gedichte vorzutragen.

Solidarisch zu sein, nicht aus falscher Moral, sondern aus feinstem Mitgefühl mit leidenden Völkern, die unterdrückt, erpresst und erniedrigt werden, wurde Erika zur Lebensnotwendigkeit, und dafür wird die serbische Gemeinde in Berlin sie immer in dankbarer Erinnerung behalten. Erika hat folgende Zeilen vor einigen Jahren aufgeschrieben:

Erinnern heißt nicht,
durch unser Denken
gegenwärtig halten,
was schon verging.
Sondern:
Anschluss nehmen, an das
was zwar nicht mehr im Außen
aber in der inneren Welt da ist.

In ihrer Abschiedsrede, die sehr beeindruckend war und in der ich fehlende Informationen fand, um Erikas Kurzbiografie zu verfassen, las To ein Gedicht, das sie nur einige Tage nach Mutters Tod, am frühen Morgen nach dem Aufwachen, geschrieben hat. Die letzten Zeilen beschreiben lebendig all die starke, liebevolle und vertrauensvolle Bindung zu einander:

Liebe Mama,
ich war da
unser Leben lang, - auch für Dich
ich war lebendig im Treiben des Strudels
und habe mit Dir einige Kraftproben bestanden
Ich durfte Dich bis zum Ende eng begleiten
und jetzt spüre ich Dich mit Deiner mir vertrauten,
großen, starken, zärtlichen, eifrigen, kraftvollen Liebe.

Als ich Erika letztes Jahr, am 8. August, anrief, um ihr zum 88. Geburtstag zu gratulieren, erkannte sie auf Anhieb meine Stimme, doch das Gespräch war sehr kurz und für uns beide sehr rührend. Ein halber Abschied, spürte ich danach, dass es ein ganzer werden würde, wusste ich, als mich ihre Tochter am 2. Januar 2024 benachrichtigte, dass ihre Mutter am Abend davor von uns gegangen ist.

Erika hat uns verlassen, schrie es in meinem Herzen! Verlassen?! Erika doch nicht, Erika verlässt nie!

Seitdem denke ich oft an Peter Handkes Gedicht „Über die Dörfer“, das Erika so liebte, mir vor Jahren „schenkte“ und oft zitierte. Als würde ich Handkes Worte in etwas abgewandelter Form hören: „Sie ist eingekehrt, wo sie Lust hatte und gönnt sich die Sonne!“.

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ERIKA

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03.04.2024


"Den Traum vom Leben träumen / mitten in all dem Tod... / Träum` doch mit mir das Leben! /gegen diese Not... / Es ist ja nur das Träumen / was das Leben treibt / womit es – hoffend und sterbend / dennoch am Leben bleibt." Dieses Gedicht schrieb Erika Kosse 1999 für mich, als ich – Jugoslawin/Serbin – nach Halt suchte. Ohne sie hätte ich diese tragische Zeit in Berlin kaum überstanden. Unzählige Begegnungen kreuzen unseren Lebensweg. Bei manchen denken wir, wie gut es gewesen wäre, wenn wir sie nie gehabt hätten, für manche sind wir dankbar, auch wenn sie nur kurzzeitig waren und erinnern uns gern daran. Einzelne sind so großartig und außergewöhnlich, dass man diese Menschen für immer bei sich haben möchte.


Erika Kosse (8.8.1935 bis 1.1.2024) - Foto: Peter Betscher

Als in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder Kriege mein Geburtsland erschütterten – Tausende getötet, verstümmelt, in die Flucht getrieben – wurde das Leben in Deutschland für die meisten meiner Landsleute kaum ertragbar. Die deutsche Politik bestimmte, welche der so genannten Jugos gut und welche böse sind, wer Freund und wer Feind ist, Familien zerfielen, Freundschaften zerbrachen; die Politik machte möglich, was man für unmöglich hielt.

In solchen Zeiten muss jeder für sich die Entscheidung treffen, verhalte ich mich ruhig und unauffällig, um nicht das Erreichte zu verlieren, oder erhebe ich meine Stimme gegen das Unrecht, womöglich in einer Gruppe Gleichgesinnter. In so einer Gruppe, „Deutsch-Serbische-Begegnung“, in der sich Menschen vereinten mit dem Ziel, die deutsche Bevölkerung über die aggressive Politik des eigenen Landes gegenüber Jugoslawien aufzuklären, traf ich auf Erika, Dr. Kosse.

Eingangs war ich mir nicht sicher, weshalb sich diese Dame uns anschließen möchte. Nachdem sie sich zu Wort meldete, merkte ich, dass Erika Dinge erkennen und Zusammenhänge herstellen konnte, sie auch in Worte kleidete, die bei solchen Sitzungen nicht unbedingt alltäglich zu hören waren. Über die Zeit erfüllte mich ein Gefühl der inneren Vertrautheit, als wäre ein vor sehr langer Zeit verloren gegangener Teil meines selbst wieder in mich zurückgekehrt. Es entwickelte sich eine sehr starke beidseitige Verbundenheit, die imstande war, alle Hürden zu überwinden.

Erika war nicht nur eine Kämpferin für Gerechtigkeit, für mich war sie viel mehr, ich wuchs mit ihr. Sie hielt mich fest, als ich drohte total abzuheben, weil ich durch beinahe ununterbrochene Aktivitäten meine Wut erdrücken wollte, statt sie zuzulassen und ihr im täglichen........

© Neue Rheinische Zeitung


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