Am Wochenende war ich auf einem Heavy-Metal-Festival. Mitten im Spätherbst, aber dafür mit allem Komfort, den es im Sommer auf schlammigen Wiesen nun mal nicht gibt. Die Gespräche drehen sich in Metal-Kreisen allerdings zunehmend um Kniebeschwerden und ergraute Haare, die gegenüber den bereits ausgefallenen allerdings den entscheidenden Vorteil haben, dass es sie noch gibt. Eine Band fragte am Freitag, ob jemand ihr erstes Album von 1985 kenne. Es hoben sich tatsächlich ein paar Arme. Und sanken kurz darauf ermattet wieder herab.

Die Ansagen haben sich in den vergangenen Jahren auch nicht geändert. Die längst kahlen Fans sind selbstredend immer noch »das beste Publikum, das wir auf dieser Tour hatten«. Textlich ist Metal jetzt meist nicht wahnsinnig relevant, das Wesentliche lässt sich ohne abgeschlossenes Germanistikstudium begreifen. Zumal ein Motiv immer wiederkehrt (neben Drachen, Wikingern und Satan, dem alten Haudegen): Echte Freunde, am besten solche mit gutem Musikgeschmack, sind etwas, auf das man sich verlassen kann. Und tatsächlich würde ich weit lieber inmitten von 200 betrunkenen Metalheads auf einer Bananenschale ausrutschen als in irgendeiner Fußgängerzone. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem irgendjemand schnell aufhilft, ist deutlich größer. Auch über Politik wird von Metallern gerne gesungen, und die Protagonisten kommen meist nicht gut weg: Machtgeil seien die, heuchlerisch obendrein, in der Hand der Lobbys, die nichts Gutes mit der Menschheit vorhaben.

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Die Dinge so zu beschreiben, gilt hierzulande als unreif, unterkomplex, tendenziell undemokratisch und pubertär. Wobei die negative Sicht auf Politiker, die popkulturell generell ja gerne in die Nähe von Korruption und Cliquenwirtschaft gerückt werden, nichts Metal-Spezifisches ist. Von Pink Floyd bis zum Punk wurden sie schon vor 50 Jahren als verlängerter Arm der Lobbys dargestellt. So waren sie halt, die Siebziger.

Wobei man sich fragen kann, was unterkomplexer ist: Die damalige negative Pauschalisierung der politischen Exponenten oder die heute doch ziemlich weitgehende Ignoranz gegenüber der Macht der Lobbys. So las ich in ein und derselben Ausgabe einer größeren deutschen Tageszeitung zum Wochenende gleich zwei Texte, die etwas beschrieben, was man eigentlich prima in einem Rock- oder Metalsong vertonen könnte. Im ersten ging es um die Macht der Tabakindustrie. Die Kontakte zwischen ihr und der Politik seien laut einem Bericht des Krebsforschungszentrums erschreckend engmaschig. Das Ausmaß der Kontakte zwischen Tabak-Lobbyisten – über 90 Personen mit einem Budget von über sechs Millionen Euro allein in Deutschland – und Entscheidungsträgern sei auf allen Ebenen alarmierend. Und das »von der Ministerialbürokratie bis zum Bundespräsidenten«.

435.000 Euro der Zigarettenlobby sind 2021 und 2022 direkt oder indirekt an CDU/CSU, SPD und FDP geflossen. Und offenbar hat eine politische Entscheidung aus der Vorwoche, bei der mir der Mund vor Staunen offenstehen blieb, auch maßgeblich mit dem Erfolg einer Lobbyarbeit zu tun, die vieles durchsetzen will, aber ganz sicher nicht die Interessen der Europäerinnen und Europäer. In meiner Naivität war ich davon ausgegangen, dass das laut WHO »wahrscheinlich krebserregende« Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat, das nachweislich die Artenvielfalt reduziert, in Europa verboten ist. Ist es aber nicht: Da weder die Bienen noch die Böden Büros in den Hauptstädten unterhalten, darf Glyphosat auch in Europa weiter durch die Giftspritzen fließen, die Zulassung des Wirkstoffes hat die EU-Kommission gerade um zehn weitere Jahre verlängert. Warum sie das getan hat, lässt sich nur vermuten. Aber möglicherweise spielt es eine Rolle, dass die Studien, die die Kommission vor ihrer Entscheidung studiert hat, von der Industrie finanziert worden sind. Schätzungen zufolge arbeiten alleine in Brüssel 30.000 Lobbyisten. Kein einziger von ihnen wäre da, wenn es in Politik und Wirtschaft so laufen würde, wie man das im Schulunterricht lernt.

QOSHE - ... des Lied ich sing’ - Christoph Ruf
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... des Lied ich sing’

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19.11.2023

Am Wochenende war ich auf einem Heavy-Metal-Festival. Mitten im Spätherbst, aber dafür mit allem Komfort, den es im Sommer auf schlammigen Wiesen nun mal nicht gibt. Die Gespräche drehen sich in Metal-Kreisen allerdings zunehmend um Kniebeschwerden und ergraute Haare, die gegenüber den bereits ausgefallenen allerdings den entscheidenden Vorteil haben, dass es sie noch gibt. Eine Band fragte am Freitag, ob jemand ihr erstes Album von 1985 kenne. Es hoben sich tatsächlich ein paar Arme. Und sanken kurz darauf ermattet wieder herab.

Die Ansagen haben sich in den vergangenen Jahren auch nicht geändert. Die längst kahlen Fans sind selbstredend immer noch »das beste Publikum, das wir auf dieser Tour hatten«. Textlich ist Metal jetzt meist nicht wahnsinnig relevant, das Wesentliche lässt sich ohne abgeschlossenes Germanistikstudium begreifen. Zumal ein Motiv immer wiederkehrt (neben Drachen, Wikingern und Satan, dem alten Haudegen): Echte Freunde, am besten solche mit gutem Musikgeschmack, sind etwas, auf das man........

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