Mitleid kann man nicht verordnen. Man verspürt es, oder man verspürt es nicht. Wenn jedoch unsere Gesellschaft angesichts einer humanitären Katastrophe keine Regung zeigt, dann drängt sich eine beunruhigende Frage auf: Was ist los mit uns?

In Gaza sitzen weit über eine Million Menschen vertrieben, schutzlos und ohne Nahrung, sauberes Wasser und medizinische Versorgung in einem Kriegsgebiet, aus dem es kein Entkommen gibt. Das Leid, das sie ertragen müssen, ist unbeschreiblich. Viele haben im Krieg Angehörige verloren, sind verletzt, und niemand weiß, wann der aktuelle Aufenthaltsort Rafah, wohin der Großteil der Bevölkerung geflüchtet ist, zum Angriffsziel der israelischen Streitkräfte wird.

Von Robert Treichler

Der Krieg in Gaza, den die radikal-islamistische Hamas mit einem Terrorangriff auf Israel ausgelöst hat, ist alles andere als ein vergessener Konflikt. Die Weltöffentlichkeit verfolgt ihn intensiv wie kaum einen anderen. Wir wissen, was passiert, und wir wissen auch, wie dringend Hilfe für die Bevölkerung von Gaza nötig ist.

Warum also tun wir nichts? Warum läuft nicht längst eine Aktion von „Nachbar in Not“, um Spenden für Nothilfe zu sammeln? Solche Spendenkampagnen gibt es seit 1992, als ORF, Rotes Kreuz, Caritas, Care, Diakonie, Malteser Orden, Volkshilfe, Hilfswerk und Arbeiter-Samariterbund für die Opfer des Krieges im ehemaligen Jugoslawien sammelten. Das Wunderbare an „Nachbar in Not“ ist unter anderem, dass der Begriff „Nachbar“ keine geografische Einschränkung bedeutet. Darfur (2004), Pakistan (2010), Afrika und Jemen (2017) oder die Ukraine (2022) waren Schauplätze von Katastrophen und Kriegen, die unser nachbarschaftliches Engagement brauchten – und bekamen. Wieso also nicht jetzt?

Eine Anfrage bei „Nachbar in Not“ ergibt, dass dessen Vorstand (derzeit: Caritas, Rotes Kreuz und Care) gemeinsam mit dem ORF die Lage zwar laufend verfolgt, jedoch bisher zum Schluss gekommen ist, dass zwei wesentliche Faktoren gegen eine Aktion sprechen: Der Zugang zu den betroffenen Gebieten sei „derzeit nicht ausreichend“, und außerdem sei „die Spendenbereitschaft in Österreich sehr gering“.

Tatsächlich macht es der Krieg allen Hilfsorganisationen schwer, in Gaza Hilfe zu leisten. Alle Rufe nach einem humanitären Waffenstillstand verhallen bisher ergebnislos. Dennoch schaffen es Care, Rotes Kreuz und Caritas (beziehungsweise ihre internationalen Partnerorganisationen), trotz des enormen Risikos in Gaza Hilfe zu leisten. Selbstverständlich benötigen sie dafür Geld – viel Geld –, und deshalb haben sie jeweils eigene Spendenaufrufe veröffentlicht. Und genau das hat ihnen eine traurige Gewissheit beschert: Praktisch niemand will für Gaza spenden. „Sehr gering“ sei das Aufkommen, sagt Walter Hajek, Leiter der internationalen Zusammenarbeit beim Roten Kreuz.

Den Grund für diese allgemeine Mitleidlosigkeit kann man erahnen. Gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser herrscht der Generalverdacht, sie alle seien Teil der Hamas oder würden diese Terrororganisation unterstützen, schließlich haben sie bei der Wahl 2006 deren politischen Arm mehrheitlich gewählt. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der jetzt in Gaza lebenden Bevölkerung 2006 noch nicht wahlberechtigt war, ist der Vorwurf der Kollektivschuld gewiss keine Rechtfertigung dafür, Menschen vor Hunger, Durst oder durch medizinische Unterversorgung sterben zu lassen. Das wäre das Ende aller Menschenrechte.

Insider aus dem Bereich der humanitären Hilfe sehen bei einer allfälligen groß angelegten Spendenkampagne für Gaza einen heiklen Punkt: Bilder, die das Leid der Palästinenser zeigen, könnten als Vorwurf an Israel interpretiert und schlimmstenfalls von antisemitischen Geiferern für deren Zwecke umfunktioniert werden. Auch das kann ein weiterer Grund für das Zögern sein.

Stehen wir vor diesem unauflöslichen Dilemma: entweder die Palästinenser im Stich zu lassen oder Antisemitismus zu befördern? Nein, das ist eine feige Ausflucht. Auf die Lage der palästinensischen Bevölkerung in Gaza aufmerksam zu machen und um Spenden zu bitten, heißt nicht, eine Aussage darüber zu treffen, wer an dieser Situation Schuld trägt. Das ist nicht naiv, sondern der Grundsatz aller humanitären Hilfe: helfen und nicht urteilen. Um Antisemiten jede Möglichkeit zu nehmen, ihre Propaganda zu starten, sollte eine „Nachbar in Not“-Kampagne unter dem Ehrenschutz von Persönlichkeiten stehen, deren Freundschaft mit Israel außer Streit steht. Das wäre auch ein wichtiges Signal, um zu zeigen, dass Solidarität mit Israel zu Mitgefühl mit den Palästinensern nicht im Widerspruch steht.

Derzeit müssen Palästinenser das Gefühl haben, in ihrer Not allein gelassen zu werden. Sie haben keine Regierung, die für sie da ist, denn die Hamas-Führung kümmert sich nur um sich selbst; und die Außenwelt bleibt untätig. Das muss sich ändern. Die Palästinenser sind unsere Nachbarn.

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Warum gibt es keine ‚Nachbar in Not‘-Aktion für Gaza?

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20.02.2024

Mitleid kann man nicht verordnen. Man verspürt es, oder man verspürt es nicht. Wenn jedoch unsere Gesellschaft angesichts einer humanitären Katastrophe keine Regung zeigt, dann drängt sich eine beunruhigende Frage auf: Was ist los mit uns?

In Gaza sitzen weit über eine Million Menschen vertrieben, schutzlos und ohne Nahrung, sauberes Wasser und medizinische Versorgung in einem Kriegsgebiet, aus dem es kein Entkommen gibt. Das Leid, das sie ertragen müssen, ist unbeschreiblich. Viele haben im Krieg Angehörige verloren, sind verletzt, und niemand weiß, wann der aktuelle Aufenthaltsort Rafah, wohin der Großteil der Bevölkerung geflüchtet ist, zum Angriffsziel der israelischen Streitkräfte wird.

Von Robert Treichler

Der Krieg in Gaza, den die radikal-islamistische Hamas mit einem Terrorangriff auf Israel ausgelöst hat, ist alles andere als ein vergessener Konflikt. Die Weltöffentlichkeit verfolgt ihn intensiv wie kaum einen anderen. Wir wissen, was passiert, und wir wissen auch, wie dringend Hilfe für die Bevölkerung von Gaza nötig ist.

Warum also tun wir nichts? Warum läuft nicht längst eine Aktion von „Nachbar in Not“, um Spenden für Nothilfe zu sammeln? Solche Spendenkampagnen gibt es seit........

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