Ach, Ö1! Nach so vielen Jahren Beziehung droht die Krise. Wie unser Verhältnis benennen? Radio-Zuneigung, die leicht in die Begierde kippt? Hörfunk-Hörigkeit. Funk-Fieber. Diagnose: Ö1-Abhängigkeit. Linderung nahezu ausgeschlossen.

Ö1-Hören heißt, sich in einen schildkrötenhaft unbewegten Menschen vor einem Radioapparat zu verwandeln. Via Äther – allein dieses Wort! – Tag für Tag viel Welt ins Wohnzimmer geliefert zu bekommen. Der Kanal für den geglückten Tagesanfang und Wochenendausklang. Ein Radiosender als eine von den heimischen Parteien weitestgehend ignorierte Polit-Arena, in der niemand sich ein Blatt vor den Mund nimmt: Ö1 war nie ein weiteres Machtinstrument in den Händen von Bundeskanzlern, Landeshauptfrauen und Oppositionsführern. Zu den Erfolgsgeheimnissen von Ö1 als Kulturmedium gehört die systematische Missachtung durch die politischen Parteien.

Ö1 kann so vieles. Hoch- und Popkultur. Weinverkostung und Bierzelt. „Spielräume“ und Städteporträts. „Menschenbilder“ und Tierexpeditionen. Sound-Art und Symphonisches. „Radiogeschichten“ und Rätselquiz. „Hörbilder“ und „Tonspuren“. Ö1 ist einer der besten Radiosender der Welt, und im Qualitätssektor ist er einer der quotenstärksten Europas. Ö1 zieht keine Show ab, für die Privatsender viel Geld investieren, um Musik-Moderation-Infotainment-Endlosgedudel in die Welt zu entlassen.

Man kann Kurt Schwertsik nur zustimmen. „Das Ö1-Radiohören stört mich oft, weil ich dann nicht zum Arbeiten komme“, bemerkte der Wiener Komponist: „Es ist erstaunlich, was mich alles interessiert, ich bin oft selber überrascht. Ich bin froh, dass es einige Sachen gibt, die mich nicht so interessieren, weil dann brauch ich nicht Radio hören. Wenn mich einmal etwas weniger interessiert – wunderbar!“

Dem Weghören macht es Ö1 schwer. Wo sonst vermengen sich Wissensdurst und Schulfunk, Philosophie und Poesie, Lustmacherei und durchgeistigte Unterhaltung, kritisches Nachfragen in politischen Interviews und notwendige Hinweise auf gesellschaftliche Schieflagen? Recherchen über die Wurstsemmel und den Zuchtbullen Honk, den Protagonisten eines prämierten Features, der dazu verdammt ist, 100.000 Nachkommen zu zeugen? Der vor zwei Jahren verstorbene Conférencier und Sänger Willi Resetarits hinterließ die legendäre Lebensweisheit, dass er beim Verlassen seiner vier Wände das Radio weiterspielen lasse. „Damit die Wohnung auch was hat.“

Die meterhohe Plastik eines menschlichen Ohrs, die vom Gugginger Künstler Johann Garber in knallbunter Farbenpracht gestaltet wurde und seit 1998 als Ö1-Wahrzeichen vor dem inzwischen verwaisten Funkhaus in der Wiener Argentinierstraße thront, symbolisierte das Geschehen innerhalb der Mauern der ehemaligen Hörfunk-Hauptresidenz überaus genau.

Nun aber läuft etwas allerfalschigst, wie der Schriftsteller Erich Kästner in seinem Jugendbuch „Pünktchen und Anton“ schrieb, was man wiederum nur weiß, weil Ö1 unlängst in aller angemessenen Ausführlichkeit über die Stückneufassung des Romanklassikers im Wiener Theater der Jugend berichtete.

„Clustern“, so lautet jenes Unwort, das seit Kurzem die Runde macht, das einer längeren Erklärung bedarf, eben weil es so aufgebläht daherkommt. Ende Jänner kursierte ein offener Brief zur Zukunft von Ö1, angestoßen von Gerhard Ruiss, dem Wiener Lyriker und Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren, einem alerten Zeitgenossen. Ein Brief mit aufrüttelndem Anliegen, adressiert an ORF-Generaldirektor Roland Weißmann und ORF-Radiodirektorin Ingrid Thurnher: „Wir ersuchen Sie, alles zu unternehmen, um Ö1 als den Kultursender zu erhalten, als der er innerhalb und außerhalb Österreichs einen einzigartigen Ruf genießt.“ Knapp drei Wochen später haben sich bereits über 2000 Künstlerinnen und Künstler, Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Standesvertretungen vom Bildungs- bis zum Gesundheitswesen sowie 96 Kunst- und Kultureinrichtungen angeschlossen – darunter Elfriede Jelinek, Franz Schuh, Arno Geiger, Daniel Glattauer, Kathrin Röggla, Erika Pluhar, Chris Lohner, der Innsbrucker Diözesanbischof Hermann Glettler ebenso wie die ehemaligen Ö1-Chefs Alfred Treiber und Peter Klein.

Hintergrund der öffentlichen Intervention: So weit bekannt ist, verfolgt die ORF-Geschäftsführung das Ziel, einzelne Ö1-Abteilungen – Wissenschaft, Kultur, Musik, Religion – mit den entsprechenden Fernseh- und Onlineredaktionen zu verschmelzen, eben in jeweils multimediale Cluster zu verwandeln. Ein erster Schritt war es, die Radioredaktionen des Funkhauses auf dem Hietzinger Küniglberg zu „clustern“.

Das Antwortschreiben auf die Ö1-Petition, das profil vorliegt, folgte postwendend. Es gehe darum, notiert Generaldirektor Weißmann darin, Ö1 „vom klassischen Broadcaster zu einer digitalen, multimedialen Plattform weiterzuentwickeln“, was die einzige Möglichkeit sei, „den ORF fit für die (digitale) Zukunft aufzustellen“. Und weiter: „Wichtig bei dieser Weiterentwicklung ist, dass genau das nicht passiert, was Sie befürchten, nämlich dass irgendein Medium ein anderes übernimmt. Es ist Vorgabe, dass Radio, TV und Online gleichberechtigt nebeneinander existieren. Und aus der Erfahrung der Umstellung bei der Information bzw. Sport kann ich Ihnen sagen, dass wir genau in die richtige Richtung gehen, auch wenn das natürlich harte Arbeit ist und nicht von selbst passiert.“

Was aber soll genau passieren? „Der ORF ist in seiner Gesamtheit, was Radio, TV und Online betrifft, eine Flotte. Und deswegen haben wir uns als Geschäftsführung auch dafür entschieden, die Flotte in ihrer Gesamtheit weiterentwickeln zu wollen. Natürlich maßgeschneidert auf die jeweiligen Channel-Bedürfnisse bzw. auf das jeweilige Publikum.“

Dem Weißmann-Brief wiederum hielten die Unterzeichner der Petition entgegen: „Die Religionsabteilung von Ö1 wurde bereits vom großen Bruder Fernsehen inhaliert. Den Abteilungen Wissenschaft, Kultur und Musik steht eben dieses bevor. Die Leitung dieser neu geschaffenen multimedialen Cluster wird, wie man annehmen darf und muss, selten bis nie in die Hände von Radioleuten fallen. Obwohl Ö1 ein Vielfaches an Sendungen und an ‚Content‘, um dieses für die Inhalte von Ö1 vollkommen unpassende Wort zu verwenden, produziert.“ Das Clustern sei der „Todesstoß“ für Ö1: „Es macht Ö1 zu einer Abspielstation für Kultur- und Wissenschaftsprogramme, die genauso da wie dort gespielt werden können und dazu entsprechend abgeflacht werden müssen. Ö1 verliert damit, was es heute ausmacht, Vertiefung, Verdichtung, Aufbereitung auf höchstem Anspruchsniveau.“

Man muss kein Ö1-Aficionado sein, um zu bemerken, dass der Verlust der personellen, budgetären, redaktionellen Eigenständigkeit des Kultursenders bedrohlich im Raum steht.

Verclustern, das klingt beim schnellen Hinhören wie: verkleistern. Nicht jeder Medienmodeblick – gestern das Kosten-Consulting, heute das Clustern – weist zwangsläufig in eine goldene Zukunft. Man darf, mit Verlaub, das eine oder andere davon für ausgemachten Humbug halten. Es sieht, maliziös gesagt, manchmal so aus, als wären Weißmann und Radiodirektorin Thurnher in einem Werbefilm für Medien-Talks und „Trimedialität“ gelandet, was genauso schlimm und schwammig klingt, wie es im Grunde ist.

Wer nun einwendet, dass auch Ö1 mit den neuen Zeiten mitgehen müsse, hat nicht verstanden, dass der Sender nach außen hin schon immer altes Dampfradio reinster Sorte war, das den heiklen Spagat zwischen Qualität und Quote bis heute locker schafft. Ö1 klang und klingt nach radiophoner Reife fern von Zwangsbespaßung und Optimierungskalkül. So alt wie sich die fidele Wummzack-Gute-Laune-Radio-Konkurrenz anhört, war Ö1 nie.

Der Sport kennt die Weisheit: „Never change a winning team.“ Was nicht heißt, dass alles beim Alten bleiben soll. Schon gar nicht bei Ö1, dieser Radio-Wunderkammer, die nie der Glorie der Vergangenheit zugewandt war, der es stets um die Welt der Gegenwart ging, in der die überwiegende Zahl der Formate mit den Mitteln journalistischer Feinmechanik hergestellt wird: Ö1 definiert bis heute die Standards des Qualitätsjournalismus in diesem Land maßgeblich mit. Die Aufgabe eines guten Teamchefs besteht darin, seine Crew weiterzuentwickeln, damit sie besser wird und ihren Status nicht verliert. Clustern der FC Bayern München und Real Madrid ihre Mannschaften? Eben.

Man muss nicht so weit gehen wie der Schauspieler Michael Heltau, der viele Jahre lang Protagonist der Ö1-Sendung „Du holde Kunst“ war. „Weil es ein Programm ist, das konzentriert“, schwärmte Heltau: „Es ist ein guter Start in den Tag. Jemand, der zuhört, glaubt, er ist ein besserer Mensch, und es wird ein guter Tag. Es ist der Gottesdienst der Kunst!“ Ö1 ist ein verdammt guter Sender, der sein Handwerk versteht. Man sollte ihn, der jeden Tag aufs Neue beweist, was es heißt, auf grandios klassisch-mediale Radio-Art zeitgemäß zu sein, weiterhin seine Arbeit erledigen lassen.

QOSHE - Alle mal herhören! Etwas läuft beim Kultursender Ö1 allerfalschigst - Wolfgang Paterno
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Alle mal herhören! Etwas läuft beim Kultursender Ö1 allerfalschigst

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01.03.2024

Ach, Ö1! Nach so vielen Jahren Beziehung droht die Krise. Wie unser Verhältnis benennen? Radio-Zuneigung, die leicht in die Begierde kippt? Hörfunk-Hörigkeit. Funk-Fieber. Diagnose: Ö1-Abhängigkeit. Linderung nahezu ausgeschlossen.

Ö1-Hören heißt, sich in einen schildkrötenhaft unbewegten Menschen vor einem Radioapparat zu verwandeln. Via Äther – allein dieses Wort! – Tag für Tag viel Welt ins Wohnzimmer geliefert zu bekommen. Der Kanal für den geglückten Tagesanfang und Wochenendausklang. Ein Radiosender als eine von den heimischen Parteien weitestgehend ignorierte Polit-Arena, in der niemand sich ein Blatt vor den Mund nimmt: Ö1 war nie ein weiteres Machtinstrument in den Händen von Bundeskanzlern, Landeshauptfrauen und Oppositionsführern. Zu den Erfolgsgeheimnissen von Ö1 als Kulturmedium gehört die systematische Missachtung durch die politischen Parteien.

Ö1 kann so vieles. Hoch- und Popkultur. Weinverkostung und Bierzelt. „Spielräume“ und Städteporträts. „Menschenbilder“ und Tierexpeditionen. Sound-Art und Symphonisches. „Radiogeschichten“ und Rätselquiz. „Hörbilder“ und „Tonspuren“. Ö1 ist einer der besten Radiosender der Welt, und im Qualitätssektor ist er einer der quotenstärksten Europas. Ö1 zieht keine Show ab, für die Privatsender viel Geld investieren, um Musik-Moderation-Infotainment-Endlosgedudel in die Welt zu entlassen.

Man kann Kurt Schwertsik nur zustimmen. „Das Ö1-Radiohören stört mich oft, weil ich dann nicht zum Arbeiten komme“, bemerkte der Wiener Komponist: „Es ist erstaunlich, was mich alles interessiert, ich bin oft selber überrascht. Ich bin froh, dass es einige Sachen gibt, die mich nicht so interessieren, weil dann brauch ich nicht Radio hören. Wenn mich einmal etwas weniger interessiert – wunderbar!“

Dem Weghören macht es Ö1 schwer. Wo sonst vermengen sich Wissensdurst und Schulfunk, Philosophie und Poesie, Lustmacherei und durchgeistigte Unterhaltung, kritisches Nachfragen in politischen Interviews und notwendige Hinweise auf gesellschaftliche Schieflagen? Recherchen über die Wurstsemmel und den Zuchtbullen Honk, den Protagonisten eines prämierten Features, der dazu verdammt ist, 100.000 Nachkommen zu zeugen? Der vor zwei Jahren........

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