Als ich die Nachricht über ein LED-Nachtrichten-Display auf der Straße flimmern sah, dachte ich: Es fängt alles von vorne an. Dort war zu lesen, dass der Oberste Gerichtshof in New York das Urteil von 2020 gegen Harvey Weinstein gekippt habe. Mein nächster Gedanke: All die Frauen, die gegen ihn ausgesagt haben, müssen nun dieselbe Nachricht lesen, nach allem, was über ihn bekannt geworden ist.

Weinstein ist der gefallene Hollywood-Produzent, ohne dessen exzessiven Missbrauch #MeToo vielleicht nie die mächtigste Frauenbewegung weltweit geworden wäre. Es hatte damit angefangen, dass die Schauspielerin Rose McGowan ihn öffentlich angeklagt hatte. Und während die meisten noch dachten, ihr Aufschrei werde so erfolglos verschallen wie immer, stellten sich hunderte von Frauen hinter McGowan und sagten: MeToo. Unter ihnen waren Hollywood-Schauspielerinnen wie Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie und Salma Hayek.

Es war ein Domino-Moment weiblicher Solidarität, der in vielen die Hoffnung weckte, der Feminismus habe eine zentrale Achse des Patriachats zerschlagen: den sexuellen Missbrauch in der Arbeitswelt. Bilder von Schauspielerinnen in schwarzen Kleidern auf rotem Teppich gingen um die Welt, Missbrauchsgeschichten standen in den Zeitungen und Magazinen. Jeder konnte lesen, wie perfide das Showbusiness mit den Träumen talentierter Frauen umging. Die Frau, die in einer männerdominierten Filmwelt etwas werden will, muss für diesen Wunsch mit ihrem Körper bezahlen, das war der Anspruch der Männer. Kränkte sie deren Ego, musste sie erst recht bezahlen: Weinstein setzte Unwillige auf schwarze Listen.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.

Wie oft habe ich seither gehört, die Schauspielerinnen hätten für ihre Prinzipien Hollywood den Rücken kehren müssen! Ja, Frauen sollten am besten überall verschwinden, wo Männer sich an ihnen vergehen. Wann ist Schluss mit dieser Himpathy? Wie lange noch zeigen wir uns bei Männern empathisch, ordnen Frauen jedoch immer bei Eva und dem Sündenfall ein?

Der Fall Weinstein ist der Kern der #MeToo-Bewegung. Im Zuge der Enthüllungen verloren mehr als 200 Männer wegen sexuellen Missbrauchs und Nötigung ihren Job. In dieser Stimmung besetzte man Frauen nach. Auch in Deutschland machte der Siegeszug Mut und veränderte auch die Arbeitsatmosphäre für Frauen zum Besseren.

Weinstein selbst wurde zu 23 Jahren Haft wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung verurteilt.

Und nun heißt es: ein Verfahrensfehler! Was bedeutet das? Und stimmt es, dass es nur am Verfahren liegt? In den USA ist eine Diskussion darüber entfach, weil drei der sieben Juroren gegen die Aufhebung des Verfahrens gestimmt haben und im Anschluss öffentlich erklärten, die Entscheidung der anderen vier Kollegen sei falsch. Sie wiesen darauf hin, weshalb der zuständige Richter James Burke im Prozess die vielen Zeugen und Zeuginnen geladen hatte. Es sollte dadurch das Ausmaß des Machtmissbrauchs deutlich werden. Weinsteins Verteidiger sagen, ihr Mandant habe kein faires Verfahren erhalten. Über mehr als den vorliegenden Fall zu sprechen, sei rechtswidrig gewesen. Die Mehrheit der Richter des New Yorker Obersten Gerichtshof gaben ihnen Recht.

Ich sehe es wie die überstimmten Richter. Zurecht bedauern diese den Rückfall in Zeiten, in denen jede missbrauchte Frau für sich allein kämpfen muss, was sie letztlich abschrecken könnte, Anzeige zu erstatten. Viele zu Wort kommen zu lassen, war ein Teil des Wandels in der Rechtsprechung; die Betroffenen erhielten so Unterstützung. Schon kriechen im Netz und anderswo alle jene aus den Löchern, die in #MeToo bloß eine Gefahr für den Rechtsstaat sehen. Dabei besteht kein Zweifel an Weinsteins Schuld, er ist ein verurteilter Vergewaltiger.

Die Aufhebung des Urteils ist eben nicht nur eine Verfahrungsfrage. Es ist auch der Versuch, die Debatte neu aufzurollen. Frauen sollen wieder eingeschüchtert werden. Wenn #MeToo etwas gelungen ist, so war es, endlich die Opfer sexueller Gewalt zu schützen – und nicht immer nur den Täter. Die Frauen, die im Verfahren gegen Weinstein ausgesagt haben, werden sich verhöhnt fühlen, weil es eben ihre Aussagen sind, die jetzt als Verfahrensfehler bezeichnet werden.

Weinstein war der Anfang von #MeToo in der Rechtsprechung. Die Frauen werden nicht zulassen, dass seine Anwälte diesen Erfolg zunichte machen. Weinstein selbst kann sie jedoch sogar aus dem Knast heraus noch zwingen, erneut durch die Hölle zu gehen. Geht es hier um den Rechtsstaat oder um die Verhöhnung missbrauchter Frauen, die den Mut hatten, zu klagen und zu sprechen? Der Aufschrei nach der Aufhebung war riesig. Ich hoffe, er wird noch viel lauter, denn auch Rechtsprechung ist kulturell. Ich möchte in einer Kultur leben, in der #MeToo etwas bewirkt hat zugunsten missbrauchter Frauen.

Die gute Nachricht: Weinstein bleibt wegen eines kalifornischen Hafturteils 16 Jahre im Knast.

QOSHE - Die Aufhebung des Weinstein-Urteils verhöhnt dessen Opfer. Wir sollten das nicht zulassen - Jagoda Marinić
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Die Aufhebung des Weinstein-Urteils verhöhnt dessen Opfer. Wir sollten das nicht zulassen

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28.04.2024

Als ich die Nachricht über ein LED-Nachtrichten-Display auf der Straße flimmern sah, dachte ich: Es fängt alles von vorne an. Dort war zu lesen, dass der Oberste Gerichtshof in New York das Urteil von 2020 gegen Harvey Weinstein gekippt habe. Mein nächster Gedanke: All die Frauen, die gegen ihn ausgesagt haben, müssen nun dieselbe Nachricht lesen, nach allem, was über ihn bekannt geworden ist.

Weinstein ist der gefallene Hollywood-Produzent, ohne dessen exzessiven Missbrauch #MeToo vielleicht nie die mächtigste Frauenbewegung weltweit geworden wäre. Es hatte damit angefangen, dass die Schauspielerin Rose McGowan ihn öffentlich angeklagt hatte. Und während die meisten noch dachten, ihr Aufschrei werde so erfolglos verschallen wie immer, stellten sich hunderte von Frauen hinter McGowan und sagten: MeToo. Unter ihnen waren Hollywood-Schauspielerinnen wie Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie und Salma Hayek.

Es war ein Domino-Moment weiblicher Solidarität, der in vielen die Hoffnung weckte, der Feminismus habe eine zentrale Achse des Patriachats zerschlagen: den sexuellen Missbrauch in der Arbeitswelt. Bilder von Schauspielerinnen in schwarzen Kleidern auf rotem Teppich gingen um die Welt, Missbrauchsgeschichten standen in den Zeitungen und Magazinen. Jeder konnte lesen, wie perfide das Showbusiness mit den Träumen talentierter........

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