Soziotop Supermarkt. Neulich war es mal wieder so weit: Wie ein Verhaltensforscher, ein Konrad Lorenz von der Käsetheke, durfte ich dem faszinierenden Schauspiel beiwohnen, wenn ein schreiender Vierjähriger seine Mutter tyrannisiert. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schubberte er sich zwischen den Regalen langsam Richtung, ja, wo wollte er eigentlich hin? Auch was er wollte, war in dem Geschrei und Geheule nicht so recht raushörbar. Er machte aber den Eindruck, sich für Süßigkeiten zu interessieren.

Der Mama war anzusehen, dass sie mehrere Optionen prüfte: 1. Den Kleinen durch einen gezielten Hieb mit dem Baguette ruhigstellen. 2. Mit einer Familienpackung Toffifee auf die Forderung des Terroristen eingehen. 3. Abhauen und darauf hoffen, dass der Kurze nicht die Adresse des Elternhauses behalten hat.

Derweil robbte sich der Junge in der Daunenjacke schreiend auf dem Boden voran Richtung Kasse 3. Viele Umstehende bedauerten die Mutter – ich dagegen war neidisch auf das Kind. Auf diese Fähigkeit, dem ureigenen Gefühl der Unzufriedenheit so drastisch nachzugeben. Ab wann genau fangen wir damit an, unsere kindliche Ausdrucksfreude so mit Etikette zu ummanteln, bis nichts mehr davon übrig ist? Sprudelndes Glück, überschäumender Zorn – alles ist irgendwie zugeschüttet. Fast ein wenig schade. Erzählen uns nicht gerade alle Ratgeber, wir müssten dem inneren Kind nur ausreichend Auslauf lassen?

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Der Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff erinnert sich in einem seiner sensationellen Bücher daran, wie er als Kind aufgrund seiner Tobsuchtsanfälle nur "die blonde Bombe" genannt wurde. Diese Veranlagung sollte auch später immer mal wieder ausbrechen. Etwa in dem Moment, als er seinem Unmut über die neue Liebe seiner Mutter Luft machte – und den Carport ihres neuen Mannes mit einer Verve zerlegte, die selbst Jens Lehmann beeindruckt hätte. Der ehemalige Nationaltorhüter ist eine letzte Ikone der Zügellosigkeit. Mit dem Gemüt eines Achtjährigen setzt er seinen Willen durch, fährt im Parkhaus unter der Schranke durch, klaut einem Fan die Brille und setzt die Kettensäge an, wenn ihm etwas den Blick verstellt.

Da kriegt man dann doch ein wenig feuchte Augen und wendet kurz den Blick ab von der zweistündigen Youtube-Collage mit den schönsten Austickern von Klaus Kinski. Einem deutschen Kult-Irren, den heute noch viele verehren nicht wegen seiner "Schauspielkunst", sondern weil er hinter den Kulissen so herrlich rumgebrüllt und mit Sachen geworfen hat.

Ich selbst war als Kind zwar ebenfalls blond, aber keine Bombe. Was Kinder mit Tobsuchtsanfällen zu regeln versuchen, das regelte ich als Fünfjähriger mit dem überzeugenden Charme eines SPD-Ortsvereinsvorsitzenden. Wohl recht erfolgreich: Mama geht bis heute ran, wenn ich anrufe.

An dieser Art des Umgangs mit anderen Menschen hat sich bei mir nichts geändert. Nur: Im Straßenverkehr, im Auto, da bin ich in der Lage, all das rauszulassen, was uns die Etikette, der Knigge, das soziale Wertekorsett im Laufe der Jahre aberzogen hat. In der Fahrgastzelle bin ich etwas, das manchmal nur bedingt an einen Menschen erinnert. Hupen, fluchen, Körpersprache. Hier bin ich Kind, hier darf ich's sein.

Wenn Sie mich suchen: Morgen tobe ich auf dem Boden vor Kasse 3. Ich ziehe mir sogar einen guten Anzug an.

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Tobsuchtsanfall an Kasse 3: Dem inneren Kind freien Lauf lassen

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28.12.2023

Soziotop Supermarkt. Neulich war es mal wieder so weit: Wie ein Verhaltensforscher, ein Konrad Lorenz von der Käsetheke, durfte ich dem faszinierenden Schauspiel beiwohnen, wenn ein schreiender Vierjähriger seine Mutter tyrannisiert. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schubberte er sich zwischen den Regalen langsam Richtung, ja, wo wollte er eigentlich hin? Auch was er wollte, war in dem Geschrei und Geheule nicht so recht raushörbar. Er machte aber den Eindruck, sich für Süßigkeiten zu interessieren.

Der Mama war anzusehen, dass sie mehrere Optionen prüfte: 1. Den Kleinen durch einen gezielten Hieb mit dem Baguette ruhigstellen. 2. Mit einer Familienpackung Toffifee auf die Forderung des Terroristen eingehen. 3. Abhauen und darauf hoffen, dass der Kurze nicht die Adresse des Elternhauses behalten hat.

Derweil robbte sich der Junge in der Daunenjacke schreiend auf dem Boden voran Richtung Kasse 3. Viele Umstehende bedauerten die Mutter –........

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