Alle reden über die RAF. Und wer kümmert sich um die hunderten gewaltbereiten Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen mit offenem Haftbefehl?

Zuviele Neonazis laufen frei herum in Deutschland Foto: Golejewski/AdoraPress

Mich beschleicht in diesen Tagen das Gefühl, dass das Krisen- und Umbruchsjahrzehnt der 70er zurück ist. Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, greifen sowohl viele Putin-Versteher wie Putin-Gegner zur Schablone aus dem Kalten Krieg und tun so, als säße statt dem Raubtierkapitalisten Putin der Altkommunist Breschnew im Kreml, der Arbeitskampf ist zurück und wieder wird überall gestreikt, Ölkrise ist ohnehin und die öffentliche Infrastruktur in Deutschland wurde auch gefühlt zuletzt in den Siebzigern repariert.

Jetzt auch noch die RAF: Seit Daniela Klette in einem Kreuzberger Wohnblock verhaftet wurde, feiert die RAF-Sucht fröhliche Urständ in der Republik. Die Medien, die Polizei, die immer bereiten deutschen Blockwartseelen geben sich dem Frisson der Siebziger hin. Endlich wieder richtiger Linksterrorismus, Großfahndung, Kalter Krieg, klare Feinde, klare Erzählmuster, endlich wieder Siebziger! Doch wir befinden uns leider nicht mehr in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das im Rückblick so simpel und unkompliziert aussieht.

Nein, wir befinden uns im politisch und ideologisch höchst verworrenen und widersprüchlichen 21. Jahrhundert. Bringen wir etwas Klarheit in die Unordnung. Wo droht denn gerade die größte Gefahr in diesem Land? Sind es wirklich Linksterroristen aus einer vergangenen Zeit? Zum Glück haben wir da kalte Zahlen.

Warum machen sich so wenige Podcaster, Polizisten, Reporter auf die Suche nach den untergetauchten Rechten? Weil es einfacher, ungefährlicher ist

Vergangenes Jahr stellte die AfD-Fraktion im Bundestag eine Kleine Anfrage. Sie wollte wissen, wie viele Linke gerade polizeilich gesucht werden. Die Antwort Im März 2023 waren insgesamt 33 Haftbefehle gegen Personen aus dem linken Spektrum wegen politisch motivierter Gewaltdelikte unvollstreckt. Dazu gehört hauptsächlich Körperverletzung, darunter sind aber auch 8 Personen, nach denen aufgrund von Terrorismus gefahndet wird. Wenige Monate davor, im Dezember 2022, hatte die Linksfraktion bereits in einer kleinen Anfrage die Information erbeten, wie viele offene Haftbefehle gegen Rechte vorliegen: Es waren 915.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wir haben auf der einen Seite also 33, auf der anderen Seite 915 unvollstreckte Haftbefehle. (Da gegen manche Personen mehrere Haftbefehle offen sind, weicht die Zahl der konkreten Menschen, die gesucht werden, etwas davon ab.) Führen wir uns die Dimensionen dessen vor Augen. Und zwar bildlich, mit dem, was gerade zur Hand ist: dieser Zeitung.

Im Printjournalismus rechnet man gerne mit Zeilen, darum soll uns das auch bei dieser kleinen Rechenaufgabe Maß sein. Pro unvollstrecktem Haftbefehl eine Zeile, das wäre bei 33 gesuchten Linken 33 Zeilen, das entspricht in etwa dem ersten Bein dieses Textes. 915 Zeilen, eine Zeile pro gesuchtem Rechten, jedoch entspricht sage und schreibe drei Seiten dieser Zeitung. Fahren Sie doch mit dem Finger am ersten Bein dieses Textes entlang, dann blättern Sie mal um.

Verstehen Sie jetzt, welche Dimensionen wir hier vergleichen? Falls Sie diesen Text online lesen, können Sie zum Vergleich ja diesen Artikel und danach die aktuelle Gesellschaftsreportage auf ihrem Bildschirm lesen, um zu verstehen, wie jenseits von Gut und Böse die Aufmerksamkeit ist, die die RAF-Rentner gerade bekommen im Vergleich zu den gewalttätigen Rechten, die noch auf der Flucht sind.

Statt Probleme aus den Siebzigern zu wälzen, sollten wir uns dem Jahr 2024 widmen. Heute droht wenig Gefahr von links, aber sehr viel von rechts. Warum machen sich so wenige Podcaster, Polizisten, Reporter auf die Suche nach den untergetauchten Rechten? Weil es einfacher, ungefährlicher ist. Weil die Gespenster von gestern bereits besiegt sind. Im Jahr 2024 sind die Kämpfe noch offen, man könnte sie also auch noch verlieren.

QOSHE - Wo die wahre Gefahr lauert - Caspar Shaller
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Wo die wahre Gefahr lauert

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08.03.2024

Alle reden über die RAF. Und wer kümmert sich um die hunderten gewaltbereiten Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen mit offenem Haftbefehl?

Zuviele Neonazis laufen frei herum in Deutschland Foto: Golejewski/AdoraPress

Mich beschleicht in diesen Tagen das Gefühl, dass das Krisen- und Umbruchsjahrzehnt der 70er zurück ist. Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, greifen sowohl viele Putin-Versteher wie Putin-Gegner zur Schablone aus dem Kalten Krieg und tun so, als säße statt dem Raubtierkapitalisten Putin der Altkommunist Breschnew im Kreml, der Arbeitskampf ist zurück und wieder wird überall gestreikt, Ölkrise ist ohnehin und die öffentliche Infrastruktur in Deutschland wurde auch gefühlt zuletzt in den Siebzigern repariert.

Jetzt auch noch die RAF: Seit Daniela Klette in einem Kreuzberger Wohnblock verhaftet wurde, feiert die RAF-Sucht fröhliche Urständ in der Republik. Die Medien, die Polizei, die immer bereiten deutschen Blockwartseelen geben sich dem Frisson der Siebziger hin. Endlich wieder richtiger Linksterrorismus, Großfahndung, Kalter Krieg,........

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