Artikel vom 04.04.2024

Die Nordatlantische Vertragsorganisation ist durch die ständige Bedrohung aus Moskau entstanden und immer größer geworden - und durch Russlands Krieg gegen die Ukraine zuletzt noch weiter gewachsen.

Wenn die Nato heute ihren 75. Geburtstag feiert, muss sie einem sehr unfreiwilligen Helfer bei Geburt, Aufwachsen und Größerwerden zwar nicht ausdrücklich danken, darf sich aber doch über die tiefgründige Ironie der Geschichte freuen: Ohne das ständige Bedrohungsszenario aus Moskau wäre am 4. April 1949 keine Nordatlantische Vertragsorganisation gegründet worden. Und ohne einen verschärften Ost-West-Gegensatz hätte die Bundesrepublik 1956 nicht den Artikel 12 a zur allgemeinen Wehrpflicht ins Grundgesetz gehoben (der 2011 ausgesetzt, aber nicht aufgehoben wurde). Und schließlich ist vor allem die jüngste Nato-Erweiterung um Finnland und Schweden, die Mitglieder Nr. 31 und 32 der Verteidigungsallianz, im Frühjahr 2023 ausschließlich auf Russlands Angriff gut ein Jahr zuvor auf die Ukraine zurückzuführen.

Hatte der erste Nato-Generalsekretär, der Brite Lord Hastings Lionel Ismay, den Zweck der Nato mit dem berühmten Dreiklang beschrieben, „to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down“, so sind die beiden ersten Ziele (mit leichten Variationen) aktueller denn je: Die Sowjetunion, die der Lord draußen, damals außerhalb Westeuropas, halten wollte, gibt es nicht mehr, aber Putin, der ihren Untergang als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, stellt als De-Facto-Diktator eines neoimperialistischen Russland für die Staaten Mittelosteuropas keine geringere Bedrohung dar. In den USA, die Ismay in Europa halten wollte, sind die Tendenzen zur Selbstisolierung gewachsen. Zwar hat der vormalige und möglicherweise auch nächste Präsident Donald Trump seine Ankündigung, das Verteidigungsbündnis auflösen zu wollen, zurückgenommen – aber auf Trumps Ankündigungen, weder in die eine noch in die andere Richtung, darf man erfahrungsgemäß viel geben. In jedem Fall müssen die Europäer diese Nato durch erhöhte Verteidigungsbeiträge am Leben halten, sonst wendet sich Washington, das man doch „drinnen halten möchte“, unter welchem Präsidenten auch immer irgendwann ausschließlich den Herausforderungen im Pazifikraum zu.

Nur der dritte von Ismay genannte Punkt, nämlich „Deutschland unten zu halten“, ist nicht mehr aktuell. Im Gegenteil, in den letzten Jahrzehnten ging es darum, die Deutschen aufzurichten und ihnen die Bedeutung von Landesverteidigung in Erinnerung zu rufen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner „Zeitenwende“-Rede endlich die adäquate Ausstattung der Bundeswehr und die Erfüllung der Zwei-Prozent-Selbstverpflichtung versprochen. Noch allerdings ist dies, trotz einer massiv gestiegenen Akzeptanz des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, allen voran bei den noch 2021 vom Pazifismus dominierten Grünen, vor allem eine Ankündigung.

Die Nato bleibt also auch nach 75 Jahren ein Eckpfeiler der kollektiven Verteidigung und Sicherheit im transatlantischen Raum. Formal zog die Sowjetunion erst 1955 mit acht Ostblockstaaten und der Gründung des Warschauer Pakts auf dem Feld der Militärbündnisse nach. Doch schon davor war die Bedrohung aus dem Osten offenkundig. Sie hatte sich 1953 in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR manifestiert, als ein Volksaufstand für niedrigere Arbeitsnormen, freie Wahlen und die deutsche Einheit von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. 1956 folgten die nächsten Moskauer Militärinterventionen in Polen und in Ungarn, 1968 in Prag. Es ist eine Mär, dass der Westen durch seine Verteidigungsallianz erst zur Aufrüstung im Osten geführt habe.

12 Staaten gingen mit den Vereinigten Staaten 1949 bei der Nato-Gründung voran, nämlich Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, das Vereinigte Königreich und Island. Griechenland und die Türkei folgten 1952, die damalige Bundesrepublik Deutschland 1955, Spanien 1982.

Nach dem Ende des Kalten Krieges erlebte die Nato eine Reihe von Erweiterungen, die die geopolitische Landschaft Europas erheblich veränderten: So wurden in der „vierten Erweiterung“ 1999 mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik erstmals frühere Warschauer-Pakt-Mitglieder aufgenommen, womit das Bündnis auf 19 Mitglieder anwuchs.

Eine der größten Erweiterungen in der Geschichte der Nato fand 2004 in der „fünften Runde“ statt, als Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien beitraten. Nunmehr zählte das Bündnis 26 Mitglieder.

2009 wurden Albanien und Kroatien aufgenommen, 2017 trat Montenegro bei, 2020 wurde Nordmazedonien das 30. Mitglied der Nato.

Finnland und Schweden dürften nicht die letzten Mitglieder sein. Die Ukraine hat ihre Aufnahme beantragt. 2009 stand US-Präsident George W. Bush recht isoliert mit seinem Vorstoß, Kiew (und Georgien) rasch ins Bündnis zu integrieren. Inzwischen sind, bei allen technischen Schwierigkeiten, die Stimmen auch in Frankreich und Deutschland, damals die entschiedensten Gegner einer solchen Erweiterung, lauter geworden, die eine solche Erweiterung befürworten.

Putin begann seinen Krieg gegen die Ukraine im Februar 2022 unter anderem mit der Behauptung, Russland sehe sich durch die Nato „eingekreist“ und bedroht. Das war billige Propaganda. Der letzte Staats- und Parteichef der UdSSR, Michail Gorbatschow, hat mehrfach bestätigt, dass es nie eine Zusage des Westens gab, keine Mitglieder aus dem vormaligen Warschauer Pakt aufzunehmen. Zwar hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in ersten Gesprächen mit Gorbatschow über eine Wiedervereinigung gesagt, dass "sich die Nato natürlich nicht auf das Territorium Ostdeutschlands ausdehnen" würde. Aber der Kreml-Chef wusste, dass Kohl nicht für die Nato sprechen oder Entscheidungen eines gesamtdeutschen Parlaments vorwegnehmen konnte - geschweige denn die Politik der USA zu bestimmen vermochte, die soeben immerhin den Kalten Krieg für sich entschieden hatten. 2014 widersprach Gorbatschow ausdrücklich der Legende, ihm sei in Gesprächen über die deutsche Vereinigung ein Verzicht auf eine Ost-Erweiterung der Nato zugesagt worden. Bei den Verhandlungen 1990 sei dies kein Thema gewesen, sagte Gorbatschow dem heute-journal im ZDF. Er fügte hinzu: "Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht." Auf die Frage, ob es also ein Mythos ist, dass er vom Westen betrogen worden sei, antwortet Gorbatschow: "Ja, das ist tatsächlich ein Mythos. Da hat die Presse ihre Hand im Spiel gehabt."

Putin setzt alles daran, diesen Mythos zu bestärken. Die Fakten sprechen gegen ihn. Und zur tatsächlichen Wahrheit gehört, dass Putin erst durch seinen Krieg die Nato auch im hohen Norden an die russischen Grenzen herangezogen hat.

Russland und die Einkreisung durch die Nato: Gewissermaßen hat Putin eine Lüge in die Welt gesetzt und durch seinen Krieg ein Stück weit zur Wahrheit gemacht.

QOSHE - 75. Geburtstag: Warum die Nato sich bei Putin bedanken darf - Ansgar Graw
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

75. Geburtstag: Warum die Nato sich bei Putin bedanken darf

10 1
04.04.2024

Artikel vom 04.04.2024

Die Nordatlantische Vertragsorganisation ist durch die ständige Bedrohung aus Moskau entstanden und immer größer geworden - und durch Russlands Krieg gegen die Ukraine zuletzt noch weiter gewachsen.

Wenn die Nato heute ihren 75. Geburtstag feiert, muss sie einem sehr unfreiwilligen Helfer bei Geburt, Aufwachsen und Größerwerden zwar nicht ausdrücklich danken, darf sich aber doch über die tiefgründige Ironie der Geschichte freuen: Ohne das ständige Bedrohungsszenario aus Moskau wäre am 4. April 1949 keine Nordatlantische Vertragsorganisation gegründet worden. Und ohne einen verschärften Ost-West-Gegensatz hätte die Bundesrepublik 1956 nicht den Artikel 12 a zur allgemeinen Wehrpflicht ins Grundgesetz gehoben (der 2011 ausgesetzt, aber nicht aufgehoben wurde). Und schließlich ist vor allem die jüngste Nato-Erweiterung um Finnland und Schweden, die Mitglieder Nr. 31 und 32 der Verteidigungsallianz, im Frühjahr 2023 ausschließlich auf Russlands Angriff gut ein Jahr zuvor auf die Ukraine zurückzuführen.

Hatte der erste Nato-Generalsekretär, der Brite Lord Hastings Lionel Ismay, den Zweck der Nato mit dem berühmten Dreiklang beschrieben, „to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down“, so sind die beiden ersten Ziele (mit leichten Variationen) aktueller denn je: Die Sowjetunion, die der Lord draußen, damals außerhalb Westeuropas, halten wollte, gibt es nicht mehr, aber Putin, der ihren Untergang als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, stellt als De-Facto-Diktator eines neoimperialistischen Russland für die Staaten Mittelosteuropas keine geringere Bedrohung dar. In den USA, die Ismay in Europa halten wollte, sind die Tendenzen........

© The European


Get it on Google Play