Artikel vom 16.02.2024

Der WikiLeaks-Gründer ist kein Journalist, für den Pressefreiheit gilt, aber auch kein Spion einer fremden Macht. Er hat gegen schwerwiegende Gesetze verstoßen. Dennoch sollte US-Präsident Joe Biden ihn jetzt begnadigen.

Es gibt etliche Missverständnisse über Julian Assange. Eines wird innerhalb seiner weltweiten Anhängerschaft kultiviert und behauptet, der australische WikiLeaks-Gründer sei ein „Journalist“ oder „ehemaliger Journalist“. Das ist Unsinn. Assange hat nie Artikel, Hörfunk- oder Fernsehbeiträge verfasst oder zumindest in einem eigenen Blog Nachrichten oder seine Einschätzungen dazu verbreitet. Im Gegenteil, er hat sogar Journalisten dafür bezahlt, dass sie Zusammenfassungen über Konvolute von Enthüllungsakten schrieben, weil er selbst das offenkundig nicht konnte. Aber das Etikett des Journalisten macht sich gut, wenn man für Assanges Freilassung kämpft, sich dabei auf die Pressefreiheit beruft und den Eindruck zu erwecken versucht, diejenigen, die den Hacker hinter Gitter sehen möchten, seien Feinde der freien Meinungsäußerung.

Ein anderes Missverständnis wird von der Gegenseite produziert, insbesondere den US-Strafverfolgungsbehörden, und besagt, Julian Assange sei ein Spion. Aber das ist genauso falsch. Ein Spion arbeitet für einen Auftraggeber, insbesondere eine fremde Macht, und kundschaftet militärische, politische oder wirtschaftliche Geheimnisse aus. Assange hat vor allem militärische (und manche politische und zudem etliche völlig private) Geheimnisse enthüllt. Aber das Handwerkszeug eines Geheimagenten brauchte er dafür nicht, sondern er ließ über seine Enthüllungswebsite schlicht Tonnen an geheimen Akten veröffentlichen, die ihm ungefragt zugespielt worden waren. Nichts deutet bislang darauf hin, dass er einen Auftraggeber dafür hatte – auch wenn sich etliche Mächte, von Russland über Iran bis China, mutmaßlich gefreut haben über die Bloßstellung Washingtons durch die Publizierung von Details der US-Kriegsführung im Irak und in Afghanistan oder der dienstlichen Einschätzung fremder Regierungen durch amerikanische Diplomaten.

Julian Assange ist also weder Journalist noch Spion, sondern ein – ausgesprochen begnadeter – Hacker mit fragwürdigem Charakter. Er hat über viele Jahre einen privaten Feldzug gegen viele geführt, insbesondere aber gegen das Pentagon. Er hat auf seiner Website manipuliert und Fake News verbreitet. Als er aufgrund einer Namensgleichheit einen angeblichen Kunden der Privatbank Julius Bär zusammen mit anderen, realen Bankkunden (die Steuern auf einem trickreichen, aber letztlich legalen Weg umgingen) an den Internet-Pranger stellte, wies dieser auf die Verwechslung hin. WikiLeaks erklärte daraufhin auf der Website, von „drei unabhängigen Quellen“ auf den möglichen Fehler hingewiesen worden zu sein, darum werde man den Fall überprüfen. Aber diese drei Quellen existierten nur in der Fantasie, schreibt Assanges früherer Freund und damaliger WikiLeaks Pressesprecher Daniel Domscheit-Berg.

Assange war (und ist mutmaßlich bis heute) ein naiver Spinner mit paranoiden Anwandlungen und ein undogmatisch-linker Anarchist, der, wie Domscheit-Berg, von einer Welt mit völliger Datentransparenz und ohne jedes Herrschaftswissen träumte, „in der es keine Bosse oder Hierarchien geben würde, und niemand würde Macht dadurch erlangen können, dass er oder sie anderen jenes Wissen vorenthält, das sie benötigen, um auf Augenhöhe agieren zu können“. Ein Cyber-Krieger auf der Suche nach Bullerbü, gewissermaßen. Das machte ihn zu einem Helden und Popstar der Antiautoritären. WikiLeaks veröffentlichte alles, was dem Portal an Unterlagen zugespielt bekame, ohne Unterscheidung zwischen Gut und Böse oder Rechts und Links, wie Domscheidt-Berg behauptet.

Einen medialen Höhepunkt stelle das berüchtigte „Bagdad-Luftangriff-Video“ dar, das, gefilmt aus einem US-Kampfhubschrauber, die Tötung von 18 Zivilisten in der irakischen Hauptstadt zeigt, die von den Soldaten für feindliche Milizen gehalten worden waren. Das Video hatten Medien zugespielt bekommen und Assange gelang es nach tagelanger Arbeit, die Verschlüsselung der Bilder durch das Pentagon zu brechen.

Zu den Scoops von WikiLeaks gehörten außerdem Dokumente über Guantánamo, über Scientology, Handbücher aus dem Innenleben amerikanischer Studentenverbindungen, private eMails der einstigen US-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, die Liste der Spender für den republikanischen Senator Norm Coleman, die Mitgliederliste der rechtsextremen British National Party, die Verträge des gescheiterten deutschen Maut-Konzepts, Unterlagen über die Love Parade in Duisburg 2010, bei der 21 Menschen während einer Massenpanik zu Tode kamen, oder die Korrespondenz des US-Außenministeriums mit seinen Botschaften in aller Welt. Und häufig waren die Enthüllungen alles andere als von öffentlicher Relevanz: WikiLeaks publizierte die Klarnamen von Opfern von Kinderpornographie ohne deren Einverständnis oder die Identität eines schwulen Mannes in Saudi-Arabien, wo Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann. Enthüllt wurden medizinische Unterlagen, Kreditkarteninformationen und die höchst sensiblen Social Security Nummern von etlichen Amerikaner. Collateral Damage, heißt so etwas beim Militär, doch den selbsternannten Wahrheitskrieger Assange kümmerte das erkennbar nicht. Im amerikanischen “Urban Dictionary“ findet sich längst das Verb „to assange“ mit der Bedeutung, jemand bloßzustellen durch die Enthüllung intimer Details: „Oh, du machst Schluss mit mir?! Ich werde dich auf Facebook total assangen!“

Aber wenn alle gleich sein sollen, sind manche gleicher: Die Transparenz endete bei den Strukturen von WikiLeaks selbst, das sich der Öffentlichkeit als großes Netzwerk mit einem ganzen Pool qualifizierter Anwälte und einem imaginären „Jay Lim“ präsentierte, während das Portal im Kern aus den beiden fanatischen Hackern bestand, der prophetische Gründer in Australien und sein Jünger zu dieser Zeit in Wiesbaden, und mit einer ihnen zugeneigten Anwältin in Texas, die gelegentlich mit kostenlosen Ratschlägen zur Seite stand. Domscheidt-Berg operierte lange unter einem Pseudonym. Das, was man allen anderen an Klandestinität versagte, beanspruchte man für sich selbst.

WikiLeaks verstieß gegen strenge Geheimhaltungsgesetze insbesondere der USA. Die Plattform brachte Menschen etwa in Afghanistan in Lebensgefahr, die mit den USA und den anderen westlichen Staaten im (letztlich gescheiterten) Kampf gegen die Taliban kooperiert hatten und deren Namen sich in den Afghanistan-Papieren ungeschwärzt finden.

Und dennoch: Lasst Julian Assange frei! Joe Biden sollte von seinen Präsidialrechten Gebrauch machen und dem mittlerweile 52-Jährigen Straffreiheit gewähren.

Assange, den Menschen aus seiner Umgebung als narzisstischen Eiferer ohne menschliche Wärme erlebten, hat gegen viele und schwerwiegende amerikanische Gesetze verstoßen. Er hat die Sicherheit der USA und etlicher Menschen gefährdet. Er hat sich angemaßt, selbst entscheiden zu dürfen, welche zum Teil höchst privaten Daten in die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Aber Assange hat auch, bei dem Versuch, einem Gerichtsverfahren in den USA in 18 Anklagepunkten mit einer möglichen Gesamtstrafe von 175 Jahren Gefängnis zu entgehen, auf seine eigene Weise gebüßt. 2012 floh der Cyberpunk in die Botschaft Ecuadors in London. Dort lebte er in einem kleinen, mit einem Bett und einer Toilette nachgerüsteten Bürozimmer; nebenan wurde die Kloschüssel aus der Damentoilette auf seinen Wunsch entfernt, damit er dort schlafen konnte.

Der Aufenthalt in der Botschaft war sicher angenehmer als in jedem Gefängnis, und der offenkundig unbelehrbare Assange setzte von dort seine Enthüllungstätigkeiten fort. Aber er verbrachte in diesem Edelverließ rund sieben Jahre ohne die Möglichkeit, das Botschaftsgelände jemals zu verlassen, bis Ecuador im April 2019 seinen Asylstatus widerrief und Assange von der Londoner Polizei in Gewahrsam genommen wurde. Seitdem ist er seit nahezu fünf Jahren für 23 Stunden (plus eine Stunde Hofgang) am Tag in einer Zelle im Belmarsh-Gefängnis eingeschlossen und kämpft gegen seine Auslieferung in die USA. Dazu kommen die sieben Jahre in seinem Zimmerchen in der bedingt luxuriösen ecuadorianischen Botschaft. Manche Straftäter haben schlimmere Zeiten absitzen müssen, aber es gibt auch Mörder und Totschläger, die deutlich billiger davon kamen als dieser selbstgefällige Hacker.

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Lasst Julian Assange frei!

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16.02.2024

Artikel vom 16.02.2024

Der WikiLeaks-Gründer ist kein Journalist, für den Pressefreiheit gilt, aber auch kein Spion einer fremden Macht. Er hat gegen schwerwiegende Gesetze verstoßen. Dennoch sollte US-Präsident Joe Biden ihn jetzt begnadigen.

Es gibt etliche Missverständnisse über Julian Assange. Eines wird innerhalb seiner weltweiten Anhängerschaft kultiviert und behauptet, der australische WikiLeaks-Gründer sei ein „Journalist“ oder „ehemaliger Journalist“. Das ist Unsinn. Assange hat nie Artikel, Hörfunk- oder Fernsehbeiträge verfasst oder zumindest in einem eigenen Blog Nachrichten oder seine Einschätzungen dazu verbreitet. Im Gegenteil, er hat sogar Journalisten dafür bezahlt, dass sie Zusammenfassungen über Konvolute von Enthüllungsakten schrieben, weil er selbst das offenkundig nicht konnte. Aber das Etikett des Journalisten macht sich gut, wenn man für Assanges Freilassung kämpft, sich dabei auf die Pressefreiheit beruft und den Eindruck zu erwecken versucht, diejenigen, die den Hacker hinter Gitter sehen möchten, seien Feinde der freien Meinungsäußerung.

Ein anderes Missverständnis wird von der Gegenseite produziert, insbesondere den US-Strafverfolgungsbehörden, und besagt, Julian Assange sei ein Spion. Aber das ist genauso falsch. Ein Spion arbeitet für einen Auftraggeber, insbesondere eine fremde Macht, und kundschaftet militärische, politische oder wirtschaftliche Geheimnisse aus. Assange hat vor allem militärische (und manche politische und zudem etliche völlig private) Geheimnisse enthüllt. Aber das Handwerkszeug eines Geheimagenten brauchte er dafür nicht, sondern er ließ über seine Enthüllungswebsite schlicht Tonnen an geheimen Akten veröffentlichen, die ihm ungefragt zugespielt worden waren. Nichts deutet bislang darauf hin, dass er einen Auftraggeber dafür hatte – auch wenn sich etliche Mächte, von Russland über Iran bis China, mutmaßlich gefreut haben über die Bloßstellung Washingtons durch die Publizierung von Details der US-Kriegsführung im Irak und in Afghanistan oder der dienstlichen Einschätzung fremder Regierungen durch amerikanische........

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