Artikel vom 24.03.2024

Der Kreml-Despot will sich als Kämpfer gegen Korruption und für Russlands Größe profilieren. Das erste Ziel durchkreuzte Nawalny - und der Nachweis seiner Stärke scheiterte an der Ukraine, einer Meuterei und jetzt den Islamisten.

Wladimir Putins Versuch, von seinem offenkundig eigenen Versagen abzulenken und die Ukraine als Drahtzieher des Massenmords in der Moskauer Crocus-Stadthalle darzustellen, hat die Terrororganisation Islamischer Staat (ISIS) durchkreuzt durch die Veröffentlichung eines Videos mit grausamen Details des Angriffs, bei dem mindestens 133 Menschen starben und über 100 weitere Personen verletzt wurden

Hochgeladen auf dem Telegramkanal der IS-Nachrichtenagentur Al-Amaq, ist dort knapp anderthalb Minuten lang zu sehen, wie mehrere Angreifer in Tarnkleidung mit Maschinenpistolen durch das Foyer der etwa 20 Kilometer vom Kreml entfernten Konzerthalle patrouillieren. Einem Besucher wird die Kehle durchgeschnitten, der Täter präsentiert das blutige Messer. Auf den Bildern ist zudem zu sehen, wie die Angreifer Feuer legen und schließlich das Gebäude verlassen. Zuvor hatte die besonders brutal agierende Ableger-Gruppe ISIS-K (auch ISPK) die Tat für sich reklamiert. Die Gruppierung beruft sich mit dem letzten Kürzel auf die Khorasan-Region oder „Provinz“, die Teile von Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Iran umfasst. Im Januar hatte ISIS-K eine Terrorattacke mit über 80 Toten im Iran ausgeführt. Innerhalb Afghanistans bekämpft ISIS-K die dortigen Taliban-Machthaber.

Stunden vor der Veröffentlichung des Videomaterials hatte der russische Präsident versucht, Kiew für die Terrortat verantwortlich zu machen. Russland gibt an, elf Personen verhaftet zu haben, darunter vier offenkundige Täter. Sie seien nahe der Grenze zur Ukraine festgenommen worden. Es gebe Anzeichen, so Putin, dass man in der Ukraine Vorbereitungen getroffen habe, um den Tätern einen Grenzübertritt zu ermöglichen. Kiew hat jede Verbindung zu den Terroristen abgestritten und zugleich gewarnt, Putin könne diesen Vorwurf nutzen, um den vor über zwei Jahren begonnenen Krieg gegen die Ukraine zu intensivieren.

Der Fingerzeig des Kreml in Richtung Ukraine ist auch deshalb absurd, weil der US-Geheimdienste vorab Hinweise auf die geplante Terrortat erhalten und Moskau darüber unterrichtet hatte. Die US-Botschaft in Moskau rief bereits vor zwei Wochen auf der eigenen Website dazu auf, größere Menschenansammlungen zu vermeiden. Diese Warnungen ignorierend, hatte Putin am 19. März in einer öffentlichen Rede westliche Warnungen vor möglichen Terroranschlägen in Russland als „provokative Äußerungen“ zurückgewiesen. Dies sehe nach „blanker Erpressung“ und dem Ziel aus, „unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren“.

Erst nach der Bluttat folgte Moskau den amerikanischen Warnungen. Die Sicherheitsvorkehrungen beispielsweise an Bahnhöfen und Flughäfen wurden verstärkt und öffentliche Konzerte sowie Sportveranstaltungen bis auf weiteres abgesagt – eine tragische Verspätung, die man im internen Zirkel dem russischen Präsidenten anlasten wird, auch wenn das bislang mutmaßlich niemand auszusprechen wagt.

Putin war kaum eine Woche vor dem Anschlag bei einer weitgehend inszenierten Wahl für eine fünfte Amtszeit mit einem offiziellen Ergebnis von über 88 Prozent bestätigt worden. Ernst zu nehmende Gegenkandidaten waren entweder nicht zugelassen oder ins Exil gezwungen worden, saßen in Haft oder waren wie der wichtigste Oppositionsführer Alexej Nawaly in erkennbar politisch motivierter Haft ums Leben gekommen.

Die Rückkehr der islamistischen Bedrohung stürzt Putin in ein Dilemma. Der frühere KGB-Agent hat sich seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 als starker Macher in Szene zu setzen versucht, der gegen Korruption vorgeht und das Land sicher hält. Doch Nawalny veröffentlichte 2021 Videomaterial, das angeblich einen Palast Putins an der Schwarzmeeküste und auch dessen engste Getreue als Nutznießer von milliardenschwerer Korruption zeigt. Und der Krieg gegen die Ukraine, die er am 24. März 2022 angegriffen hat, verläuft bis heute ganz und gar nicht nach Plan.

Nach (nicht überprüfbaren) US-Schätzungen sind auf dem mühsamen Feldzug mit erbarmungslosen Gefechten um häufig nur wenige Hundert Quadratmeter Bodengewinn bislang 300.000 Russen gefallen oder verwundet worden. Nach einem raschen Sieg Moskaus sieht es trotz aktuell leichter Vorteile für die russischen Truppen auch weiterhin nicht aus. Im Frühsommer vorigen Jahres musste Putin gar mit ansehen, wie sein einstiger Getreuer Jewgeni Prigoschin, ein zum Kreml-Gastronom („Putins Koch“) aufgestiegener Ex-Krimineller, seine auch in der Ukraine eingesetzte Privatarmee gen Moskau marschieren ließ. Die offene Meuterei konnte Putin nur dadurch abwenden, dass er Prigoschin und 35 Kommandeure seiner „Gruppe Wagner“ im Kreml empfing. Knapp zwei Monate später starb der zum Milliardär aufgestiegene Unternehmer und Söldnerführer beim Absturz seines Privatjets auf dem Flug von Moskau nach St. Petersburg. Die Maschine wurde unbestätigten Berichten zufolge von der russischen Flugabwehr abgeschossen. Damit zeigte Putin offenkundig, dass er die Aufkündigung von Loyalität, und sei es auch nur vorübergehend, niemandem durchgehen lässt.

Doch dieses Zeichen der Stärke Putins wurde dadurch relativiert, dass er sie gegenüber einem Militärführer anwenden musste, der sich in einem Akt von „Hochverrat“ (so damals Putin) gegen ihn und mehr noch gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu gestellt hatte. Wie stark ist ein Autokrat, wenn in seiner engsten Umgebung Meutereien angezettelt werden? Wie stark ist ein Autokrat, der unzählige Landsleute bei einem zunächst als in der Ukraine verbluten und zu Krüppeln schießen lässt? Wie stark ist ein Autokrat, der seine Kriegsziele im Nachbarland auch zwei Jahre nach der Invasion noch längst nicht erreicht hat? Der inzwischen erleben muss, wie die Ukraine mit Raketen und Drohnen Infrastruktur und Militäreinrichtungen in Russland angreift und einen Großteil der russischen Schwarzmeerflotte vernichtet hat? Und, schließlich, wie stark ist ein Autokrat, der sich sich und seine Bürger im Innern der Hauptstadt einer zweiten blutigen Front gegenüber sieht, rekrutiert aus den Reihen fanatischer Islamisten?

Der Kreml-Herrscher, der sich so gern als Machtmensch feiern lässt und die imperiale Größe Moskaus wiederherstellen möchte, zeigt Anzeichen von Schwäche und möglicherweise sogar schon von Panik. Für beides gibt es Gründe.

QOSHE - Terroranschlag in Moskau: Wie ISIS Putins Macht gefährdet - Ansgar Graw
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Terroranschlag in Moskau: Wie ISIS Putins Macht gefährdet

9 0
24.03.2024

Artikel vom 24.03.2024

Der Kreml-Despot will sich als Kämpfer gegen Korruption und für Russlands Größe profilieren. Das erste Ziel durchkreuzte Nawalny - und der Nachweis seiner Stärke scheiterte an der Ukraine, einer Meuterei und jetzt den Islamisten.

Wladimir Putins Versuch, von seinem offenkundig eigenen Versagen abzulenken und die Ukraine als Drahtzieher des Massenmords in der Moskauer Crocus-Stadthalle darzustellen, hat die Terrororganisation Islamischer Staat (ISIS) durchkreuzt durch die Veröffentlichung eines Videos mit grausamen Details des Angriffs, bei dem mindestens 133 Menschen starben und über 100 weitere Personen verletzt wurden

Hochgeladen auf dem Telegramkanal der IS-Nachrichtenagentur Al-Amaq, ist dort knapp anderthalb Minuten lang zu sehen, wie mehrere Angreifer in Tarnkleidung mit Maschinenpistolen durch das Foyer der etwa 20 Kilometer vom Kreml entfernten Konzerthalle patrouillieren. Einem Besucher wird die Kehle durchgeschnitten, der Täter präsentiert das blutige Messer. Auf den Bildern ist zudem zu sehen, wie die Angreifer Feuer legen und schließlich das Gebäude verlassen. Zuvor hatte die besonders brutal agierende Ableger-Gruppe ISIS-K (auch ISPK) die Tat für sich reklamiert. Die Gruppierung beruft sich mit dem letzten Kürzel auf die Khorasan-Region oder „Provinz“, die Teile von Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Iran umfasst. Im Januar hatte ISIS-K eine Terrorattacke mit über 80 Toten im Iran ausgeführt. Innerhalb Afghanistans bekämpft ISIS-K die dortigen Taliban-Machthaber.

Stunden vor der Veröffentlichung des Videomaterials hatte der russische Präsident........

© The European


Get it on Google Play