Inmitten des unermesslichen Horrors gibt es auch kleine Momente unermesslicher Erleichterung. "Meine Nichte hat sich intuitiv wie durch ein Wunder in Sicherheit bringen können", schildert Awi Lifshitz, Co-Gründer und CEO des Wiener Innovationshubs WeXelerate: Seine Verwandte war Besucherin jenes Rave-Festivals in der israelischen Negev-Wüste nahe der Grenze zu Gaza gewesen, dem über 260 überwiegend junge Teilnehmer: innen beim bestialischen Hamas-Angriff am 7. Oktober zum Opfer fielen. Stunden kollektiver Panik und Fassungslosigkeit, denen in Lifshitz' Fall Auf-und Durchatmen folgte: "In meinem engsten Umfeld sind zum Glück derzeit alle gesund und wohlauf."

Der Unternehmer beobachtet allerdings mit zunehmender Sorge, wie die Wirtschaft von den Kriegsereignissen immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Baubranche in Israel, von 170.000 palästinensischen Arbeitskräften abhängig, steht praktisch still. 350.000 Reservist:innen, vor allem junge Leute, hat das israelische Militär eingezogen, und das reißt auch in den Boardrooms, Büros und Labors des zu Weltruhm gekommenen israelischen Hightech-Start-up-Sektors gewaltige Lücken. "Jeder vierte Arbeitsplatz bei Start-ups" sei betroffen, schätzt Lifshitz, "das hat sehr rasch Auswirkungen auf die Produktivität."

20 Prozent des israelischen Bruttoinlandsprodukts werden im Hightech-Sektor erwirtschaftet, die Hälfte der Exporte kommen aus dem Bereich. Austausch von Know-how, Kapital und Arbeitskräften ist für diese Branche die Existenzgrundlage, aber schon jetzt werden Investments teilweise zurück gehalten, weil der Kriegsverlauf unabschätzbar ist, hört Lifshitz aus seinen Israel-Kanälen. Das könnte auch Verzögerungen für Rieseninvestments wie jene des US-Giganten Intel nach sich ziehen, der eben eine neue Chipfabrik 40 Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt angekündigt hat, ein 25-Milliarden-Dollar-Projekt.

Awi Lifshitz, CEO WeXelerate, schätzt, ein Viertel aller Jobs im boomenden Start-Up-Sektor sind durch die Kriegsereignisse als betroffen.

Die ökonomischen Auswirkungen auf den Rest der Welt sind hingegen kurzfristig überschaubar. Aus österreichischer Hinsicht gingen im ersten Halbjahr 2023 Ausfuhren in Höhe von rund einer Milliarde Euro - weniger als ein Prozent der Gesamtexporte - nach Israel und in potenziell von einer Kriegsausweitung betroffene Länder wie Iran oder Saudi-Arabien. Ähnlich sind die außenwirtschaftlichen Relationen des globalen Westens mit Israel.

Es ist ungewöhnlich, dass die zwei großen Zugpferde China und USA zeitgleich so schwach sind.

"Wenn der Konflikt auf Israel begrenzt bleibt, wird er keine größeren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben", sagte Nationalbank-Chef Robert Holzmann, eben von einer Tagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Marrakesch zurück gekommen, am Rande einer Veranstaltung der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft (ÖAG) Mitte Oktober. Von einer "überraschend milden Reaktion der Märkte" sprach ÖAG-Vizepräsidentin Monika Rosen, langjährige Chefanalystin der Bank Austria. Der Ölpreis ist zwar wieder auf das hohe Niveau von Mitte September gestiegen, fast 95 Dollar pro Fass der wichtigsten Sorte Brent. "Das liegt jedoch innerhalb der üblichen Schwankungsbreite", meint Wifo-Ökonom Stefan Ederer.

Diese Schnelleinschätzungen beruhen jedoch auf der Annahme, dass der neue Krieg im Nahen Osten nicht zum Flächenbrand wird - was angesichts des hochexplosiven Politgemischs in der Region nicht auszuschließen ist. Das Ölpreis-Gespenst sitzt der Weltwirtschaft wieder im Nacken. Warner erinnern an das Jahr 1973: Im Yom-Kippur-Krieg griffen damals die arabischen Nachbarn Israel an, nach der Verhängung von Öl-Embargos vervierfachte sich der Ölpreis.

Anders als vor 50 Jahren ist der aktuelle Konflikt allerdings kein Krieg zwischen Staaten, und in den letzten Monaten hatte es deutliche Anzeichen der Annäherung zwischen Israel und einigen arabischen Staaten gegeben, allen voran mit Saudi-Arabien. "Der Druck zur Diversifizierung im arabischen Raum ist nach wie vor groß", hofft Lifshitz auf eine Fortführung dieses Kurses, wenn die kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza einmal vorbei sind.

Als Schreckensszenario gilt, dass der Iran, achtgrößter Rohölproduzent der Welt, als deklarierter Akteur ins Kriegsgeschehen einsteigt. Sollte die islamische Republik ihre Ölförderung einschränken, könnte der Preis deutlich über die 100-Dollar-Marke klettern, erwartet die Investmentbank Goldman Sachs. Noch verhängnisvoller wäre jedoch, wenn die Straße von Hormuz, die von den Mullahs kontrolliert wird, versperrt würde. Saudi-Arabien, Kuwait und der Iran liefern durch dieses Nadelöhr des globalen Ölhandels nach Asien, Europa und Amerika.

Christine Lagarde, EZB-Chefin

Ein sprunghaft steigender Ölpreis würde aber die Hoffnungen dämpfen, dass es mit der Inflation, dem größten Sorgenkind vieler westlicher Volkswirtschaften, rasch wieder nach unten geht. Und damit auch die Hoffnung, dass die Zentralbanken – sowohl die Fed in den USA als auch die EZB unter Christine Lagarde in Europa – eher früher als später mit einer Zinswende nach unten beginnen können, was die Konjunktur beflügeln würde.

Es ist genau diese sprunghaft gestiegene Unsicherheit, die Jamie Dimon, CEO von JPMorgan und Star unter Amerikas Bankern, nach dem Hamas-Überfall zur Bemerkung veranlasste, es könnte "die gefährlichste Zeit" anbrechen, "die die Welt seit Jahrzehnten erlebt hat". Dimon führte die Unsicherheit von Ukraine bis Israel sowie weitreichende Auswirkungen auf die Energie-und Lebensmittelmärkte, den Welthandel und die geopolitischen Beziehungen ins Treffen.

Wall-Street-Star Jamie Dimon, Chef der Investmentbank JPMorgan, fürchtet gefährliche Zeiten.

Als "zugespitzt" bezeichnet Stefan Bruckbauer, Chefökonomom der UniCredit Bank Austria, die Aussage der Wall-Street-Größe, aber auch als "nicht unrichtig". Zwar könne der aktuelle Wirtschafts-Krisenmodus nicht mit dem Beginn der Corona-Krise im März 2020 oder dem russischen Überfall auf die Ukraine zwei Jahre später verglichen werden.

Doch der Handlungsspielraum der Zentralbanken, die in den letzten Krisen durch exzessives Gelddrucken die Lage stabilisiert und beruhigt haben, sei im Fall des Falles eindeutig kleiner. Und die Verwundbarkeit der Weltwirtschaft im Umkehrschluss größer.

Das eigentliche Gift ist somit die große Unsicherheit, die seit dem 7. Oktober eingekehrt ist. "Wie die Zentralbanken 2024 agieren werden, ist noch fraglich", sagt Bruckbauer. Dazu komme das Damoklesschwert einer möglichen erneuten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten Ende 2024, das nun mehr als ein Jahr lang über der Welt schwebe. Die Auswirkungen auf Geopolitik und Lieferketten wären womöglich fatal.

Denn solange es keine starken Lokomotiven gibt, wird der gesamte Zug der Weltwirtschaft im Schritttempo unterwegs sein. Ob die USA ein "Soft Landing" ihrer Wirtschaft hinbekommen, ist unter Ökonomen umstritten. Der große geopolitische Rivale China wiederum hat zuletzt enttäuscht, und auch wenn das Land für 2024 wie prognostiziert eine Wachstumsrate von vier Prozent schaffen sollte, ist das im langjährigen Vergleich sehr verhalten. Neben den Exporten schwächelte zuletzt auch der Binnenkonsum im 1,3-Milliarden-Einwohner-Reich merklich. Es sei jedenfalls "ungewöhnlich, dass die zwei großen Zugpferde China und USA zeitgleich so schwach sind", notiert Ökonom Bruckbauer.

Vor diesem Hintergrund ist jede Ausweitung der Kämpfe im Nahen Osten eine Hiobsbotschaft für die Weltwirtschaft. Für Israel selbst ist WeXelerate-CEO Lifshitz dennoch unerschütterlich optimistisch. Ja, die Dimension der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober und der folgenden Mobilmachung sei neu. Aber aus der 75-jährigen Geschichte des Staats lasse sich eine Schlussfolgerung ziehen: "Israel ist kriegserprobt. Und aus praktisch allen Krisen der letzten Jahren ist es gestärkt hervor gegangen."

Artikel aus trend. PREMIUM vom 27.10.2023

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Ohne Kriegsende keine Zinswende

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07.11.2023

Inmitten des unermesslichen Horrors gibt es auch kleine Momente unermesslicher Erleichterung. "Meine Nichte hat sich intuitiv wie durch ein Wunder in Sicherheit bringen können", schildert Awi Lifshitz, Co-Gründer und CEO des Wiener Innovationshubs WeXelerate: Seine Verwandte war Besucherin jenes Rave-Festivals in der israelischen Negev-Wüste nahe der Grenze zu Gaza gewesen, dem über 260 überwiegend junge Teilnehmer: innen beim bestialischen Hamas-Angriff am 7. Oktober zum Opfer fielen. Stunden kollektiver Panik und Fassungslosigkeit, denen in Lifshitz' Fall Auf-und Durchatmen folgte: "In meinem engsten Umfeld sind zum Glück derzeit alle gesund und wohlauf."

Der Unternehmer beobachtet allerdings mit zunehmender Sorge, wie die Wirtschaft von den Kriegsereignissen immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Baubranche in Israel, von 170.000 palästinensischen Arbeitskräften abhängig, steht praktisch still. 350.000 Reservist:innen, vor allem junge Leute, hat das israelische Militär eingezogen, und das reißt auch in den Boardrooms, Büros und Labors des zu Weltruhm gekommenen israelischen Hightech-Start-up-Sektors gewaltige Lücken. "Jeder vierte Arbeitsplatz bei Start-ups" sei betroffen, schätzt Lifshitz, "das hat sehr rasch Auswirkungen auf die Produktivität."

20 Prozent des israelischen Bruttoinlandsprodukts werden im Hightech-Sektor erwirtschaftet, die Hälfte der Exporte kommen aus dem Bereich. Austausch von Know-how, Kapital und Arbeitskräften ist für diese Branche die Existenzgrundlage, aber schon jetzt werden Investments teilweise zurück gehalten, weil der Kriegsverlauf unabschätzbar ist, hört Lifshitz aus seinen Israel-Kanälen. Das könnte auch Verzögerungen für Rieseninvestments wie jene des US-Giganten Intel nach sich ziehen, der eben eine neue Chipfabrik 40 Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt angekündigt hat, ein 25-Milliarden-Dollar-Projekt.

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