Bevor ich ins Kino ging, um mir „Poor Things“ anzusehen, erwartete ich neben einer großartig schauspielernden Emma Stone (diese Erwartung wurde erfüllt) einen feministischen Film (diese Erwartung wurde nicht erfüllt). Ein „feminist take on Frankenstein“ gar, hieß es, würde mit dem Film geschaffen worden sein. Das ist durchaus bemerkenswert, da „Frankenstein“ selbst sowieso schon immer eine inhärent feministische Erzählung war, geschaffen von der großartigen Mary Shelley. Eine Erzählung, die sie im Übrigen im Alter von 18 Jahren schrieb und mit der sie ein ganzes Genre begründete. Frankenstein nämlich gilt als der erste Science-Fiction-Roman überhaupt. (Konnte ich mein Anglistik-Studium also doch noch beruflich nutzen.)

Mary Shelley, auch das sollte man wissen, war die Tochter von Mary Wollstonecraft, die mit „A Vindication of the Rights of Woman“ die erste Welle der Frauenbewegung in Großbritannien lostrat, und des politischen Philosophen William Godwin, der sie nach dem Tod von Mary Wollstonecraft großzog. Wenn also angekündigt wird, dass das Werk einer Feministin nun nochmal feministischer aufgezogen wird, sind die Erwartungen hoch. Was ich dann aber im Kino vorfand, war eine von einem heterosexuell-männlichen Blick triefende Erzählung über angebliche weibliche Selbstermächtigung, oder besser darüber, wie sich misogyne Männer diese Selbstermächtigung, weibliche Sexualität und Körperlichkeit vorstellen. Kurz: Ermächtigend oder sexy ist da gar nichts. Noch nie habe ich einen Film gesehen, aus dem mir mit einer solchen Penetranz die Gewissheit entgegensprang, dass jede Zeile von einem Mann geschrieben wurde. Verpackt in sehr schönes Production Design und mit sehr schönen Kostümen, das muss man „Poor Things“ lassen.

Wie der Film selbst eine exklusiv-männliche Kopfgeburt ist (sowohl Drehbuch als auch Regie als auch das Buch, auf dem das Drehbuch basiert, sind männliche Schöpfungen) ist es auch Bella Baxter, die Hauptfigur des Filmes. Sie wird nicht durch eine Frau geboren, sondern durch einen Mann (Dr. Godwin Baxter, großartig gespielt von Willem Dafoe, und eine Anspielung auf Mary Shelleys Vater William Godwin), der den Kopf einer sterbenden schwangeren Frau aufschneidet und ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes einsetzt. So kommt also Bella Baxter zur Welt – nicht durch eine Vagina, sondern durch das Genie (hust) eines Mannes. Und: Sie ist von Anfang an männlicher Fremdbestimmung unterworfen, die sie quietschfidel hinnimmt.

Das allein ist schon unangenehm genug, aber es wird noch unangenehmer, denn es dauert nicht lang, bis der Säugling im Körper einer Frau zum ersten Mal sexualisiert wird. Zuerst von der Kamera selbst (und damit implizit durch die Zuseher:innen), indem in Nahaufnahmen ihre nackten Brüste gezeigt werden, dann durch die männlichen Figuren im Film. Bella kann noch nicht mal aufrecht auf zwei Beinen gehen, aber Sexobjekt ist sie bereits. Das wird an keiner Stelle problematisiert. Bella Baxter, eigentlich noch ein Kleinkind, ist nie angewidert oder irritiert oder verängstigt von den offensiven sexuellen Annäherungsversuchen der erwachsenen Männer im Film. Es gibt keinen Moment der Entfremdung, keine Widerständigkeit, keine Traumatisierung. Im Gegenteil, Bella Baxter macht fröhlich und frei von jeder Ambivalenz mit. Mehr noch: Ihre Unterwerfung unter männliche Begehrlichkeiten wird als eigentlicher Katalysator für ihre Befreiung geframed.

Julia Pustet (die auf Instagram unter @makeboyscry für ihre klugen Analysen bekannt ist) schreibt dazu im KAPUT-Magazin:

„Sehr lange geht es im Film […] um ein Kind, das nur im Körper einer Frau lebt. Ein Kind, das in verschiedensten Konstellationen und auf verschiedenste Arten Missbrauch durch Männer erfährt. Das Kind wird brutal geschaffen und dann als Experiment gehalten, als Objekt behandelt und sexuell missbraucht, es befindet sich in durchweg asymmetrischen Machtbeziehungen.

Und:

„In Bella scheint es keinerlei Spuren oder Verletzungen zu hinterlassen, dass sie ihre Sexualität nicht in einem geschützten Rahmen entdecken kann, sondern ihre Lust von Beginn an von Männern ausgenutzt wird. Das Problem wird gelöst, indem Bella einfach als weitestgehend gefühlloses Wesen gezeichnet wird, das sich nur von der Kunst und der Betrachtung der Welt wirklich berühren lässt.“

Bella wird durch diese permanente Grenzüberschreitung nie wirklich verletzt. Sie ist wie eine Comic-Figur, die in hundert Teile explodiert, sich dann fröhlich springend wieder zusammensetzt und in den nächsten Unfall hüpft. Man kann mit ihr tun, was man tut, und man kann mit ihr wollen, was man will, und man kann tun, was man will, weil sie ohnehin unverwundbar ist. Auch das entspringt einer alten patriarchalen Imagination von Frauen und ihren Körpern, die man sich gern zurechtlegt, um diese Körper weiter zu misshandeln, individuell und strukturell: Die halten das schon aus. Diese Körper halten ja viel aus, das geht schon auch noch. Das Patriarchat übt sich regelmäßig in strategischer Empathielosigkeit gegenüber Frauen. Oder wie die legendäre Gertraud Klemm es in meiner letzten Podcast-Folge so treffend gesagt hat: „Das ist eines der drei patriarchalen Prinzipien, nämlich die Empathie auszuschalten. Die spüren es ja eh nicht so. Die werden es schon nicht so arg finden. Das müssen sie halt jetzt aushalten.“

Mit dem Kunstkniff der weiblichen Unverwundbarkeit wird männliche Gewalt unsichtbar, höchstens ist sie ein lustiger Schwank, nie bedrohlich, nie entfremdend, nie verstörend.

Und, wie mein lieber Freund Michael Neulinger (selbst Filmemacher) treffend beobachtete: Der einzige Moment physischer Gewalt, der im Film als tatsächliche Gewalt und damit als tatsächlich verletzend gezeigt wird, wird von einer Frau ausgeübt, nämlich von der Besitzerin des Bordells, in dem Bella arbeitet. Denn „Poor Things“ geht sogar so weit, Armutsprostitution als Weg in die sexuelle Befreiung und Selbsterkundung zu romantisieren. Auch hier ist die sexuelle Übergriffigkeit der Freier und die strukturelle Gewalt, der Bella Baxter ausgesetzt ist, höchstens eine lustige Anekdote.

Die Gewalt der Männer, die sich durch den gesamten Film zieht, die die Grundlage für die Erzählung bildet, wird so normalisiert, dass sie nicht mehr als Gewalt abgebildet wird, sondern ein fast schon unhörbares Hintergrundrauschen bildet, in das sich Bella vergnügt einfügt.

Poor Things hätte einige Chancen gehabt, eine tatsächlich feministische Geschichte zu erzählen. Die Tatsache, dass wir ein Mädchen auf der Leinwand sehen, dessen Körper tatsächlich nicht der ihre ist und dessen Körper tatsächlich nicht ihrem Alter entspricht, wäre ein guter Anlass gewesen, die Entfremdung darzustellen, die viele Mädchen in der Pubertät in Bezug auf ihre Körper erfahren. Eine Entfremdung, die unter anderem dadurch entsteht, dass man zu menstruieren beginnt, ein Prozess, der nicht nur meist schmerzhaft und gesellschaftlich mit Beschämung überzogen ist, sondern auch beängstigend. Plötzlich vollzieht sich im eigenen Körper Monat für Monat ein Schauspiel, über das man keine Kontrolle hat. Diese Entfremdung wird von Simone de Beauvoir in „Das andere Geschlecht“ sehr treffend beschrieben:

„In dieser Zeit empfindet sie ihren Körper am quälendsten als ein opakes, entfremdetes Ding: er ist einem eigensinnigen, fremden Leben ausgeliefert, das sich allmonatlich ein Nest in ihr baut und wieder abbaut; allmonatlich bereitet ein Kind sich darauf vor, geboren zu werden, und geht mit dem abgestoßenen roten Gewebe wieder ab. Wie der Mann ist die Frau ihr Körper: aber ihr Körper ist etwas anderes als sie.“

Die Menstruation ist außerdem ein Zeichen der Fruchtbarkeit, geht also mit der Möglichkeit, oder dem Risiko, einher, schwanger zu werden und damit mit dem Risiko noch weiterer Entfremdung vom eigenen Körper, dem Risiko, dass ein anderes Lebewesen in einem heranwächst und an einem zehrt. Es gibt kein Mädchen, dem Frau-Werden nicht Angst macht. Frau-Werden ist eine inhärent dysphorische Erfahrung.

Vor allem im Patriarchat, in dem all das auch noch mit einer umfassenden Objektivierung einhergeht. Die Brüste zum Beispiel wachsen nicht nur plötzlich, sie sind nicht nur befremdlich, weil da plötzlich ein Körperteil ist, wo vorher keiner war, sie sind auch der Grund, warum eine mit zwölf auf einmal erwachsene Männer lüstern anstarren, einer vielleicht nachpfeifen, eine vielleicht ungewollt anfassen. Das ist hochgradig beängstigend, verwirrend und traumatisierend. Nicht aber für Bella Baxter. Bella findet männliche Übergriffigkeit ganz großartig und läuft ihr begeistert entgegen. Bella ist das menschgewordene Ideal einer Frau im Patriarchat.

In Poor Things übrigens findet Menstruation gar nicht erst statt. Es gibt keine Achselhaare, keine Körperflüssigkeiten, keinen Ausfluss, keine Schwangerschaft, keine Geburt (wir erinnern uns, schon Bellas Geburt kommt ohne Vagina aus), keine Abtreibung, keine Geschlechtskrankheiten. Bella ist eine wandelnde Tote, ihr Körper ist lebendtot. Nichts, was den sexuellen Zugriff der Männer auf Bellas Körper irgendwie beeinträchtigen könnte, kommt vor. Weibliche Körperlichkeit wird strikt einem fanatisierenden männlichen Blick unterworfen: Sie ist haarlos, glatt gebügelt, ungefährlich und mit allem einverstanden.

Weibliche Körperlichkeit ist vor allem Fickbarkeit.

Weibliche Sexualität ist vor allem parodistisch übersteigertes Gerammel. Selbst die eine lesbische Sexszene, die uns der Film gönnt, ist eher dazu angetan, eine männliche Fantasie zu vervollständigen als weibliche Sexualität abzubilden.

So stellen sich also heterosexuelle Männer female empowerment vor, ja?

Für tatsächliches Empowerment bräuchte es Verbindung und Beziehung von Frauen miteinander, gegenseitige Bestärkung. Auch darauf wartet man in Poor Things vergeblich. Als Bella während einer Schiffsreise etwa Martha von Kurtzroc (wunderbar gespielt von Hannah Schygulla) trifft, weckt das die Hoffnung, dass sich nun eine Freundschaft zwischen zwei Frauen entwickeln könnte, aber die kurzen Momente der gegenseitigen Unterstützung werden einfach kontextlos in den Film gestellt, ohne eine Beziehung zwischen den Figuren entstehen zu lassen. Auch die (romantische? freundschaftliche? beides?) Beziehung mit Toinette (Suzy Bemba) bleibt seltsam oberflächlich und unterbelichtet. Bindung entsteht keine. Die Frauen bleiben vereinzelte Figuren.

All das entspricht aber natürlich einer Zeitgeist-Logik, denn der sogenannte Feminismus der sogenannten dritten Welle deutet gern die Eckpfeiler des Patriarchats zu Empowerment um und das insbesondere im Bereich des Sexuellen. So wird aus Prostitution selbstbestimmte Sexarbeit, aus rückenzerstörenden High Heels sexy Selbstbestimmung (slay Queen) und all das Rasieren, Schminken, Augenbrauen-Zupfen, Waxen, Botox-Spritzen und Abnehmen machen Frauen natürlich auch nur für sich selbst. Wenn eine Feministin Gewalt beim Sex kritisiert, ist sie eine sexfeindliche Kinkshamerin, weil ja alles, was Frauen tun und wofür sie sich entscheiden, schon an und für sich feministisch ist.

Das ist natürlich himmelschreiender Unsinn, denn selbstverständlich ist unser Wollen nicht frei vom patriarchalen Wasser, in dem wir alle schwimmen und auch der Bereich des Sexuellen ist nicht frei von Politik, Geschlechterhierarchien, Gewaltverhältnissen, und stereotypen Rollen. Außerdem: Jede Frau tut auch unfeministische Dinge, manchmal hat man auch gar keine andere Wahl. Man ist allerdings nicht gezwungen, das dann als feministischen Befreiungsakt einzuordnen. Feminismus wäre, die Systeme, die uns zwingen, uns – unfeministisch – in patriarchale Ökonomien einzufügen, anzugreifen, anstatt die Unterdrückung fröhlich springend wie Bella Baxter zum Empowerment umzudeuten.

Vielleicht hilft Poor Things ja, Folgendes zu erkennen: Das, was uns nun jahrelang als sexuelle Befreiung verkauft wurde, hat weitestgehend nicht Frauen befreit, sondern den männlichen Zugriff auf ihre Körper erleichtert und eine noch umfassendere Zurechtmachung von Frauen für männliche Bedürfnisse erreicht. Wir hatten noch nie, ich wiederhole, noch nie, so etwas wie eine feministische sexuelle Befreiungsbewegung.

Emma Stone hat bessere Filme verdient. Und wir alle eine bessere Welt.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.

QOSHE - Poor Things: Frauen, die wandelnden Toten - Beatrice Frasl
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Poor Things: Frauen, die wandelnden Toten

7 19
24.03.2024

Bevor ich ins Kino ging, um mir „Poor Things“ anzusehen, erwartete ich neben einer großartig schauspielernden Emma Stone (diese Erwartung wurde erfüllt) einen feministischen Film (diese Erwartung wurde nicht erfüllt). Ein „feminist take on Frankenstein“ gar, hieß es, würde mit dem Film geschaffen worden sein. Das ist durchaus bemerkenswert, da „Frankenstein“ selbst sowieso schon immer eine inhärent feministische Erzählung war, geschaffen von der großartigen Mary Shelley. Eine Erzählung, die sie im Übrigen im Alter von 18 Jahren schrieb und mit der sie ein ganzes Genre begründete. Frankenstein nämlich gilt als der erste Science-Fiction-Roman überhaupt. (Konnte ich mein Anglistik-Studium also doch noch beruflich nutzen.)

Mary Shelley, auch das sollte man wissen, war die Tochter von Mary Wollstonecraft, die mit „A Vindication of the Rights of Woman“ die erste Welle der Frauenbewegung in Großbritannien lostrat, und des politischen Philosophen William Godwin, der sie nach dem Tod von Mary Wollstonecraft großzog. Wenn also angekündigt wird, dass das Werk einer Feministin nun nochmal feministischer aufgezogen wird, sind die Erwartungen hoch. Was ich dann aber im Kino vorfand, war eine von einem heterosexuell-männlichen Blick triefende Erzählung über angebliche weibliche Selbstermächtigung, oder besser darüber, wie sich misogyne Männer diese Selbstermächtigung, weibliche Sexualität und Körperlichkeit vorstellen. Kurz: Ermächtigend oder sexy ist da gar nichts. Noch nie habe ich einen Film gesehen, aus dem mir mit einer solchen Penetranz die Gewissheit entgegensprang, dass jede Zeile von einem Mann geschrieben wurde. Verpackt in sehr schönes Production Design und mit sehr schönen Kostümen, das muss man „Poor Things“ lassen.

Wie der Film selbst eine exklusiv-männliche Kopfgeburt ist (sowohl Drehbuch als auch Regie als auch das Buch, auf dem das Drehbuch basiert, sind männliche Schöpfungen) ist es auch Bella Baxter, die Hauptfigur des Filmes. Sie wird nicht durch eine Frau geboren, sondern durch einen Mann (Dr. Godwin Baxter, großartig gespielt von Willem Dafoe, und eine Anspielung auf Mary Shelleys Vater William Godwin), der den Kopf einer sterbenden schwangeren Frau aufschneidet und ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes einsetzt. So kommt also Bella Baxter zur Welt – nicht durch eine Vagina, sondern durch das Genie (hust) eines Mannes. Und: Sie ist von Anfang an männlicher Fremdbestimmung unterworfen, die sie quietschfidel hinnimmt.

Das allein ist schon unangenehm genug, aber es wird noch unangenehmer, denn es dauert nicht lang, bis der Säugling im Körper einer Frau zum ersten Mal sexualisiert wird. Zuerst von der Kamera selbst (und damit implizit durch die Zuseher:innen), indem in Nahaufnahmen ihre nackten Brüste gezeigt werden, dann durch die männlichen Figuren im Film. Bella kann noch nicht mal aufrecht auf zwei Beinen gehen, aber Sexobjekt ist sie bereits. Das wird an keiner Stelle problematisiert. Bella Baxter, eigentlich noch ein Kleinkind, ist nie angewidert oder irritiert oder verängstigt von den offensiven sexuellen Annäherungsversuchen der........

© Wiener Zeitung


Get it on Google Play