Montag, acht Uhr, Teambesprechung. Ärzt:innen und Pfleger:innen sitzen im Kreis. Ein Pfleger erzählt, was über das Wochenende passiert ist: Ein Patient hat die Pflegekräfte attackiert und verletzt. Eine Patientin versuchte, sich mit ihren eigenen Haaren zu strangulieren. Ein anderer hat sie beschimpft. Eine andere hört nicht auf, ihre Infusionsnadel aus dem Arm zu reißen und mit ihren Fingern in der Wunde zu bohren. „Ein normales Wochenende“, sagt Karin Skala, leitende Oberärztin. Der Pfleger nickt.

Im Westflügel des Allgemeinen Krankenhauses Wien, kurz AKH, befindet sich die Kinder- und Jugendpsychiatrieabteilung 5A/B. Hier wird jungen Menschen geholfen, die mit schwerwiegenden psychischen Belastungen kämpfen – Drogensucht, Depressionen, Angstzustände, tiefe Trauer, die das Leben zu einer unerträglichen Last macht. Seit Jahren steht die Station in der Kritik. Extrem lange Wartezeiten, zu wenig Personal, eine Patientin, die vom Dach des Krankenhauses springt – immer wieder schafft es 5A/B in die Medien. Seit der Pandemie nimmt der Druck weiter zu. Die WZ hat sich selbst ein Bild gemacht - und einen Tag auf der Station verbracht.

In einem Bett liegt ein junger Mann. Er hat Alkohol auf die Station geschmuggelt, ein absolutes No-Go und ein Entlassungsgrund. Mürrisch liest der Patient einen Text vor, den er vorbereitet hat, und in dem er sich entschuldigt und bittet, ihm noch eine Chance zu geben. „Du bist hier willkommen, doch dieses Verhalten nicht. Ich glaube dir, dass dir das leid tut, aber wir haben leider das Bett neu vergeben“, sagt Skala. „Wir haben einfach nicht die Kapazität, mit einer ewig langen Warteliste für Patient:innen. Wer sich nicht an die Regeln hält oder nicht akut suizidgefährdet ist, muss, trotz aller Schwierigkeiten, entlassen werden“, sagt sie.

Eine Entscheidung, die ein grundlegendes Problem offenlegt. Skala hat zu wenig Personal für zu viele Patient:innen. „Wir haben zehn Betten, die leer stehen, weil uns einfach das Personal fehlt.“

Und die Pflegekräfte sind restlos überfordert: Ruhezeiten gibt es kaum, Urlaube werden abgelehnt, und die ständige Bereitschaft, kurzfristig einzuspringen, raubt ihnen die letzte Möglichkeit auf Erholung. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt eine ruhige Nacht hatte“, sagt eine Pflegerin. Die Grenze des Zumutbaren sei längst überschritten. Zusätzlich zur regulären Arbeit werden sie in die Ambulanz gerufen. „Eine Aufgabe, für die wir nicht ausgebildet sind. Aber wir haben keine Wahl. Ein Nein würde als Dienstverweigerung gewertet.“

Auf einem Rollwagen liegt ein Stapel grauer Mappen mit den Krankengeschichten der Patient:innen. Sie sind voller Details, die besprochen werden müssen. „Trauen wir ihm zu, ein Ladekabel im Zimmer zu haben, oder ist die Gefahr zu groß, dass er sich damit erwürgt?" „Für diese Patientin müssen wir einen geeigneten WG-Platz finden mit einer Apotheke in der Nähe, die sie mit sauberen Nadeln versorgt." Es sind nicht die herausfordernden Kinder und Jugendlichen, die das Personal in die Erschöpfung treiben.

Ein Problem liegt in der fehlenden Wertschätzung – verbal und finanziell. „Ich könnte im Altersheim das gleiche Gehalt verdienen, mit geregelten Arbeitszeiten und wesentlich weniger Drama“, sagt eine Pflegekraft, die wie viele andere an einem Wendepunkt angelangt ist. Sie hat die Kündigung bereits eingereicht. „Ich kann einfach nicht mehr, so sehr wir den Kindern auch helfen wollen und es uns leidtut.“ 11 von 26 Pflegekräften haben 2023 gekündigt - knapp die Hälfte der Beschäftigten.

Einblicke in die WZ-Redaktion. Ohne Blabla.

Der ständige Wechsel von Bezugsbetreuer:innen ist ein großes Problem für die Patient:innen und macht ihre Behandlung schwieriger. Seit Beginn der Pandemie steigt die Zahl der Bedürftigen, etwa die Anzahl junger Drogenabhängiger. Dem steht eine Personalknappheit gegenüber. Meistens ist Skala mit der Organisation des Mangels beschäftigt. Sie organisiert Betten, versucht, das Wägelchen am Laufen zu halten. Es ist ein täglicher Kampf. Oft kann ihr Personal nur akute Brände löschen, obwohl die Patient:innen mehr bräuchten. Und es besteht keine Perspektive auf Veränderung.

„Ich stehe wieder einmal davor, vielleicht eine Station übers Wochenende sperren zu müssen, weil einfach kein Personal vorhanden ist.“ Dennoch hat Skala Verständnis für Kündigungen. 70 Prozent aller Gewaltereignisse des AKH passieren auf ihrer Station. Der Job ist fordernd. Überstunden bis zum Anschlag und Urlaubssperren als Draufgabe. Es gibt zu viele Patient:innen – und zu wenige Mitarbeiter:innen. Und die wenigen, die noch geblieben sind, sind müde und erschöpft. Sie können den Pflegebedarf nicht mehr decken.

Dem zuständigen Wiener Gesundheitsverbund ist der Ernst der Lage bewusst. Auf Anfrage der WZ bestätigt der Verbund, vor großen Herausforderungen zu stehen. Maßnahmen zur Verbesserung der Situation wären bereits eingeleitet worden. Es wären Schulungsprogramme und psychologischen Hilfestellungen implementiert worden. Außerdem will der Gesundheitsverbund den Personalmangel mit „verstärkten Recruiting-Maßnahmen und Prämien“ lindern. Welche spezifischen Maßnahmen ergriffen werden, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, beantwortet uns der Verband nicht.

Das AKH Wien weist jegliche Kritik von sich. Die Arbeitszeitenregelungen, einschließlich der Ruhephasen zwischen den Diensten, entsprechen den gesetzlichen Bestimmungen. Für Dienstübernahmen, die in die Ruhezeiten fallen, gäbe es Ersatzruhezeiten. Außerdem will das Krankenhaus eine neue Regelung einführen – eine finanzielle Zulage für kurzfristig übernommene Dienste. Die sogenannten „Sonderprämien“ wirken wie ein Zugeständnis. Der Versuch, ein überhitztes System zu kühlen.

Oberärztin Skala sieht die Politik in der Pflicht. „Für Kinder ist in der österreichischen Politik traditionell kein Geld da, denn die dringend benötigten Änderungen rechnen sich nicht in einer Legislaturperiode.“ Die Worte verhallen in den Gängen der Station 5A/B. Ohne tiefgreifende Veränderungen steht die Kinder- und Jugendpsychiatrie im AKH Wien weiter auf fragilem Fundament. Der Bedarf an qualitativ hochwertiger psychischer Gesundheitsversorgung für Kinder und Jugendliche ist offensichtlich, die Ressourcen, um den Bedarf zu decken, sind nicht vorhanden.

QOSHE - AKH Wien: Kinderpsychiatrie vor dem Kollaps - Carim Chatah
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AKH Wien: Kinderpsychiatrie vor dem Kollaps

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14.04.2024

Montag, acht Uhr, Teambesprechung. Ärzt:innen und Pfleger:innen sitzen im Kreis. Ein Pfleger erzählt, was über das Wochenende passiert ist: Ein Patient hat die Pflegekräfte attackiert und verletzt. Eine Patientin versuchte, sich mit ihren eigenen Haaren zu strangulieren. Ein anderer hat sie beschimpft. Eine andere hört nicht auf, ihre Infusionsnadel aus dem Arm zu reißen und mit ihren Fingern in der Wunde zu bohren. „Ein normales Wochenende“, sagt Karin Skala, leitende Oberärztin. Der Pfleger nickt.

Im Westflügel des Allgemeinen Krankenhauses Wien, kurz AKH, befindet sich die Kinder- und Jugendpsychiatrieabteilung 5A/B. Hier wird jungen Menschen geholfen, die mit schwerwiegenden psychischen Belastungen kämpfen – Drogensucht, Depressionen, Angstzustände, tiefe Trauer, die das Leben zu einer unerträglichen Last macht. Seit Jahren steht die Station in der Kritik. Extrem lange Wartezeiten, zu wenig Personal, eine Patientin, die vom Dach des Krankenhauses springt – immer wieder schafft es 5A/B in die Medien. Seit der Pandemie nimmt der Druck weiter zu. Die WZ hat sich selbst ein Bild gemacht - und einen Tag auf der Station verbracht.

In einem Bett liegt ein junger Mann. Er hat Alkohol auf die Station geschmuggelt, ein absolutes No-Go und ein Entlassungsgrund. Mürrisch liest der Patient einen Text vor, den er vorbereitet hat, und in dem er sich entschuldigt und bittet, ihm noch eine Chance zu geben. „Du bist hier willkommen, doch dieses Verhalten nicht. Ich glaube dir, dass dir das leid tut, aber wir haben leider das Bett neu vergeben“, sagt Skala. „Wir haben........

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