Am 17. März wird Wladimir Putin nach drei Tagen Wahlen zum fünften Mal für sechs Jahre als Präsident Russlands feststehen. Für diese Voraussage bedarf es keiner Hellsichtigkeit. Ebenso wenig bedarf es seherischer Gaben, die Beiträge in den Medien vorherzusehen, die ein völliges Unverständnis für die russische Bevölkerung artikulieren werden, dass sie einen Diktator wählt. Als ob Adolf Hitler durch einen Putsch an die Macht gekommen wäre…

Tatsache ist, dass Russland für den Westen seit jeher ein fremder Kontinent ist, exotisch, kurios bisweilen, auf jeden Fall gefährlich. Von den Völkern des Amazonas-Urwalds scheint man mehr zu wissen als von Russland. Im russischen Bären sitzt eine russische Seele, der Russe schwankt von früh bis spät im Wodkadusel, und wenn er nicht gerade seine Borschtsch kochende Frau schlägt, spielt er Schach: Der Klischees ist kein Ende.

Nun mag es zwar stimmen, dass Klischees letzten Endes in Fakten wurzeln, die zwar unzulässig verallgemeinert werden, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Im Fall von Russland jedoch scheint es sich vor allem um Gerüchte und Annahmen auf der Basis geringer Kenntnisse zu handeln, die sich im Bewusstsein des Westens festgesetzt haben. Das Bild, das der Westen vom Russen hat, entspricht dem Bild des Österreichers, der zum Schnitzelschmaus den „Donauwalzer“ hört und im Keller neben den Nazi-Devotionalien eine oder mehrere Frauen gefangen hält.

Wobei man um die Tatsache schwer herumkommt, dass Russland an den Russland-Klischees mitgewirkt hat. Und das im Grund genommen vom Anfang im Kiewer Reich des 9. Jahrhunderts an. Während nämlich der europäische Westen lateinisch geprägt ist, teilweise als römisches Erbe, teilweise durch die Mission der römischen Kirche, wird Russland von den byzantinischen Geistlichen und Gelehrten Kyrill und Method im Sinn der oströmischen Orthodoxie missioniert. Äußeres Zeichen dafür sind die vom griechischen Alphabet abgeleitete kyrillische Schrift, die Ikonenverehrung und ein Hang zu einem Mystizismus, der bis ins 20. Jahrhundert reicht: So holte Zar Nikolaus II., der letzte Zar Russlands, der durch die Februarrevolution des Jahres 1917 entmachtet wurde, den Wanderprediger und Geistheiler Rasputin an den Hof, um den an der Bluterkrankheit leidenden Zarewitsch zu behandeln.

Tatsächlich kannte Russland weder eine Renaissance noch eine Aufklärung.

Die Renaissance mit ihrer Rückbesinnung auf die Wissenschaft und die Formensprache der griechischen und römischen Antike konnte in Russland nur begrenzt stattfinden: Sie beschränkte sich auf die religiöse Kunst von Byzanz, die ohnedies permanent als zumindest unterschwelliges Vorbild diente. Das enge Zusammenspiel von weltlicher und geistlicher Macht verhinderte jedoch sowohl zur Zeit der Renaissance wie in der Aufklärung schon im Ansatz jegliche Freiheit des Denkens.

Dazu kommt, dass Russland in Bezug auf Literatur ein Spätentwickler ist. Sieht man von vereinzelten altslawischen Epen unbekannter Urheberschaft wie dem Igorlied und den Erzählungen und Gedichten von Nikolai Michailowitsch Karamsin (1766-1826) ab, beginnt die russische Literatur mit dem am Stil Johann Wolfgang von Goethes und französischer Autoren geschulten Russen Alexander Puschkin (1799-1837) und dem an der mündlichen Erzählweise orientierten Ukrainer Nikolai Gogol (1809-1852), deren Werke die Erzähltechniken der russischen (und, nebenbei bemerkt, der ukrainischen) Literatur bis in die Gegenwart vorzeichnen.

Der Gegensatz des westlichen Puschkin und des slawischen Gogol spiegelt wie in einem Wassertropfen die gesamte politische und kulturelle Geschichte Russlands.

Politik, Gesellschaft und Kultur Russlands bleiben, ungeachtet der an französischen Vorbildern ausgerichteten Prachtentfaltung des Hochadels zur Zarenzeit, bis ins 20. Jahrhundert weitestgehend selbstreferenziell. So sieht eine Gesellschaft aus,, der aufgrund der fehlenden weltoffenen Kontakte die Möglichkeit zur eigenen Positionsbestimmung fehlt.

Es ist ein Teufelskreis: Die Bezugnahme auf sich selbst bewirkt eine allgemeine Rückständigkeit, die ihrerseits die Bezugnahme auf sich selbst verursacht. Sogar dann, wenn eine Modernisierung von oben her möglich gewesen wäre, findet sie nicht statt: Die in Stettin geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst russifiziert sich, ehe sie zur Zarin Katharina die Große wird.

Wie es Russland mit einer Aufbruchstimmung hält, kann man, selbst in der Zeit des Kommunismus, am Umgang mit zwei die russische Gesellschaft prägenden Zaren ablesen: Iwan der Schreckliche (eine Fehlübersetzung von Iwan Grosny, die korrekte Übersetzung lautet Iwan der Sittenstrenge) und Peter I. Steht Iwan der Schreckliche für eine Besinnung auf ein auf sich bezogenes Russland unter einer Herrschaft, die prüde Moral und Nationalismus bindend vorschreibt, steht Peter I. für das Interesse an einer Modernisierung der Gesellschaft. Glorifiziert der Machthaber den Zaren Peter I., hat er Sympathien für Modernisierungen, neigt er zu Iwan IV., bekennt er sich zu einem slawophilen Russland.

Insgesamt beschränkte sich Russlands Umgang mit mitteleuropäischen Staaten auf mehr oder weniger aufgezwungene Kriege, ob das nun im 13. Jahrhundert die Ritter des Deutschen Ordens waren oder Napoleons Feldzug im Jahr 1812, der 1904 von Japan begonnene russisch-japanische Krieg, der 1905 mit einer Niederlage Russlands endet, oder der Erste Weltkrieg, der schließlich die Revolutionen des Jahres 1917 begünstigte.

Tatsächlich führte die Machtübernahme der Kommunisten im ersten Moment zu einer radikalen Modernisierung von Gesellschaft und Kunst, ehe das Pendel unter der Herrschaft Stalins wieder in die andere Richtung ausschlug. Es war kein Zufall, dass Stalin den Filmregisseur Sergei Eisenstein mit einem historischen Spielfilm über Iwan den Schrecklichen beauftragte, dessen zweiten Teil aber verbot, da er die Schattenseiten des Zaren zeigt.

Innerrussisch verstand es Stalin, den Zweiten Weltkrieg zum „großen vaterländischen Krieg“ zu erklären, der alle Russ:innen zu einer einheitlichen Gesellschaft zusammenschweißt. Dieser „große vaterländische Krieg“ ist bis in die Gegenwart einer der Referenzpunkte der russischen Gesellschaft. Wenn Wladimir Putin behauptet, Russland kämpfe in der Ukraine gegen Nationalsozialisten, ist das für die mittlerweile wieder rein selbstreferenzielle russische Gesellschaft ein Trigger: Der „große vaterländische Krieg“, den die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern unter Entbehrungen und Tod gegen das nationalsozialistische Deutschland geführt haben, darf nicht vergebens gewesen sein.

In nahezu der gesamten weiteren Zeit des Kommunismus nach 1945 blieb die aus Russland hervorgegangene Sowjetunion auf sich selbst (und ihre Trabantenstaaten) bezogen. Die Kommunistische Partei verbot zwar die Religionsausübung, übernahm aber die Funktion der Kirche, indem sie die Moral der Bürger:innen beeinflusste. So zeigten sowjetische Filme keine über einen scheuen Kuss hinausgehende Liebesszenen, und die von stöhnenden Orchesterstößen untermalte Liebesszene der Oper „Lady Macbeth aus Mzensk“ von Dmitri Schostakowitsch führte, obwohl das Werk als grausame Satire auf das Leben von Großgrundbesitzern inklusive der Verspottung eines Popen sonst durchaus auf Parteilinie lag, zum Verbot.

Lediglich die Tauwetter-Politik des Staatschefs Nikita Chruschtschow ab 1953 bedeutete eine grundlegende Änderung. Der demokratische Westen musste dafür allerdings den Preis des Kalten Kriegs zahlen, da die Sowjetunion mit Prestigeprojekten in Wissenschaft (etwa der Raumfahrt, aber ebenso in Fragen von Nuklear- wie Waffentechnik) und Kunst weltweit die Führungsrolle zu übernehmen versuchte. Das änderte sich nach dem Sturz Chruschtschows 1964 mit der Stagnation unter Leonid Breschnew.

Erst Michail Gorbatschow leitete 1985 die weitreichenden Reformprozesse Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit, Durchsichtigkeit) ein und bekannte sich zur uneingeschränkten Meinungsfreiheit. Dafür musste er das Ende der Sowjetunion als kommunistisches Staatsgebilde und den Zerfall des Warschauer Pakts (das Bündnis der Sowjetunion mit ihren Trabantenstaaten) in Kauf nehmen.

Gleichzeitig änderte sich die russische Gesellschaft grundlegend: Das westliche Lebensgefühl wurde nicht allmählich adaptiert, sondern überschwemmte Russland wie eine Sturmflut. Präsident Boris Jelzin war gewiss demokratisch gesinnt und guten Willens, aufgrund seiner Alkoholkrankheit aber nicht in der Lage, den hereinbrechenden Tsunami des Kapitalismus auf eine darauf unvorbereitete Bevölkerung zu kanalisieren. Der Ausverkauf des ehemals sowjetischen Staatseigentums schuf eine Oligarchie. McDonalds, französische Modeketten und internationale Juweliere fassten Fuß in einer Gesellschaft, die über ihre Verhältnisse lebte.

Erst Wladimir Putin griff ab 1999 regulierend ein. Doch was zu Beginn als eine Regierung in der Tradition von Peter I. aussah, entwickelte sich in die Richtung von Iwan dem Schrecklichen: Putins Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche führte die russische Gesellschaft in moralinsaure Prüderie und Selbstbezogenheit zurück. Selbst wenn das Argument, der Westen habe die Angebote des russischen Präsidenten ausgeschlagen, stimmen sollte: Der Fehler ist im System Putin begründet, das letzten Endes nicht die weltmännische Öffnung Russlands bedeutet, sondern eine neue Abkoppelung von internationalen Entwicklungen. Russland soll durch die Besinnung auf die eigenen alten Werte genesen.

Dass in Putins Verständnis dazu auch die alten Grenzen gehören dürften, erlebt die Ukraine spätestens seit dem 24. Februar 2022.

Doch welche Erkenntnis lässt sich aus all dem gewinnen? – Vielleicht diese: Der westliche Blick auf Russland ist nur allzu oft verfehlt. Die konstatierten Fakten mögen stimmen, aber sie können keine Erklärungen liefern. Russlands Gesellschaft der jeweiligen Gegenwart kann man nur verstehen, wenn man sie als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung begreift, die insgesamt um sich selbst kreist: Die Gesellschaft Russlands lebt weniger in der Gegenwart als in einem Konglomerat von Gegenwart und Geschichte. Die mangelhafte bis mangelnde Distanz zur Vergangenheit bewirkt ständige Rückfälle in Modelle von Politik und Gesellschaft, die, von außen betrachtet, bereits überwunden schienen. So kann sich das eben noch nachgerade hysterisch-westlich gebärdende Jelzin-Russland innerhalb weniger Jahre rückverwandeln in den prüden Nationalismus der Putin-Zeit.

Wer das gegenwärtige Russland verstehen will, darf sich nicht auf die Person Wladimir Putin beschränken, sondern muss sich mit den Ikonen ebenso wie mit Puschkin, Gogol und den anderen Autoren, mit den Zar:innen und den leitenden Gestalten der kommunistischen Partei auseinandersetzen, und mit den bürgerlichen und weniger bürgerlichen Russ:innen, also mit allem, was in letzter Konsequenz zu Wladimir Putin und seiner eigenen Entwicklung geführt hat. Alles andere gliche dem Versuch, aus einem Einzelbild eines Films dessen Handlung ablesen zu wollen.

Und keine Angst: Russland verstehen zu wollen, bedeutet noch lang nicht, ein Putinversteher zu sein.

QOSHE - Der fremde Kontinent Russland - Edwin Baumgartner
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24.03.2024

Am 17. März wird Wladimir Putin nach drei Tagen Wahlen zum fünften Mal für sechs Jahre als Präsident Russlands feststehen. Für diese Voraussage bedarf es keiner Hellsichtigkeit. Ebenso wenig bedarf es seherischer Gaben, die Beiträge in den Medien vorherzusehen, die ein völliges Unverständnis für die russische Bevölkerung artikulieren werden, dass sie einen Diktator wählt. Als ob Adolf Hitler durch einen Putsch an die Macht gekommen wäre…

Tatsache ist, dass Russland für den Westen seit jeher ein fremder Kontinent ist, exotisch, kurios bisweilen, auf jeden Fall gefährlich. Von den Völkern des Amazonas-Urwalds scheint man mehr zu wissen als von Russland. Im russischen Bären sitzt eine russische Seele, der Russe schwankt von früh bis spät im Wodkadusel, und wenn er nicht gerade seine Borschtsch kochende Frau schlägt, spielt er Schach: Der Klischees ist kein Ende.

Nun mag es zwar stimmen, dass Klischees letzten Endes in Fakten wurzeln, die zwar unzulässig verallgemeinert werden, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Im Fall von Russland jedoch scheint es sich vor allem um Gerüchte und Annahmen auf der Basis geringer Kenntnisse zu handeln, die sich im Bewusstsein des Westens festgesetzt haben. Das Bild, das der Westen vom Russen hat, entspricht dem Bild des Österreichers, der zum Schnitzelschmaus den „Donauwalzer“ hört und im Keller neben den Nazi-Devotionalien eine oder mehrere Frauen gefangen hält.

Wobei man um die Tatsache schwer herumkommt, dass Russland an den Russland-Klischees mitgewirkt hat. Und das im Grund genommen vom Anfang im Kiewer Reich des 9. Jahrhunderts an. Während nämlich der europäische Westen lateinisch geprägt ist, teilweise als römisches Erbe, teilweise durch die Mission der römischen Kirche, wird Russland von den byzantinischen Geistlichen und Gelehrten Kyrill und Method im Sinn der oströmischen Orthodoxie missioniert. Äußeres Zeichen dafür sind die vom griechischen Alphabet abgeleitete kyrillische Schrift, die Ikonenverehrung und ein Hang zu einem Mystizismus, der bis ins 20. Jahrhundert reicht: So holte Zar Nikolaus II., der letzte Zar Russlands, der durch die Februarrevolution des Jahres 1917 entmachtet wurde, den Wanderprediger und Geistheiler Rasputin an den Hof, um den an der Bluterkrankheit leidenden Zarewitsch zu behandeln.

Tatsächlich kannte Russland weder eine Renaissance noch eine Aufklärung.

Die Renaissance mit ihrer Rückbesinnung auf die Wissenschaft und die Formensprache der griechischen und römischen Antike konnte in Russland nur begrenzt stattfinden: Sie beschränkte sich auf die religiöse Kunst von Byzanz, die ohnedies permanent als zumindest unterschwelliges Vorbild diente. Das enge Zusammenspiel von weltlicher und geistlicher Macht verhinderte jedoch sowohl zur Zeit der........

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