Was soll das Gerede, es gäbe keine Chefdirigentinnen? Und wie es sie gibt! Erst jüngst hat eine ihren Posten angetreten: Joana Mallwitz, Deutsche, gerade einmal 37 Jahre alt, hat in der Saison 2023/24 das Konzerthausorchester Berlin übernommen. Und die US-Amerikanerin Marin Alsop ist seit September 2019 Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien.

Na bitte, es geht ja.

Aber geht es wirklich? Zugegeben: Die Liste der Frauen, die weltweit Chefdirigent:innen-Positionen bekleiden, ist relativ lang. Sie hat nur einen Haken, und der ist gravierend: Die international bedeutenden Orchester setzen nach wie vor auf Männer.

Das britische Musikmagazin Gramophone hat eine Liste der 20 weltbesten Orchester erstellt, und sie zeichnet, was Chefdirigentinnen betrifft, ein eindeutiges Bild.

Die Wiener Philharmoniker sind heraußen, sie haben traditionell keine Chefdirigent:innen, egal welchen Geschlechts. Das Concertgebouw-Orchester Amsterdam agiert derzeit ohne Chef:in. Die Berliner Philharmoniker leitet Kirill Petrenko, beim London Symphony Orchestra hat Antonio Pappano soeben Simon Rattle abgelöst, der zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wechselt; das Chicago Symphony Orchestra hat Riccardo Muti zum Musikdirektor auf Lebenszeit ernannt, Franz Welser-Möst ist Chef des Cleveland Orchestra und Gustavo Dudamel sein Amtskollege beim Los Angeles Philharmonic. Das Budapest Festival Orchestra ist bei seinem Gründer Iván Fischer ebenso in Männerhänden wie die Sächsische Staatskapelle Dresden, die sich im kommenden Jahr aus denen Christian Thielemanns in die Daniele Gattis begibt.

Das lässt sich fortsetzen und am Ende steht fest: Kein einziges der genannten 20 Top-Orchester wird von einer Frau geleitet. Das Bild der europäischen zehn Spitzenklangkörper ist deckungsgleich: Keines hat eine Chefdirigentin. Selbst, wenn man auf (relative) Newcomer setzt, wie es etwa das Londoner Philharmonia Orchestra macht, kommt ein Mann zum Zug, im konkreten Fall der 38-jährige Finne Santtu-Matias Rouvali.

Findig mögen Leser:innen nun argumentieren, das sei schließlich nur eine Orchester-Liste, die, wie alle Listen, ziemlich subjektiv aufgestellt ist. Doch wenn man allenfalls darüber streiten mag, ob das Concertgebouw-Orchester den ersten Platz verdient, oder ob dort nicht doch die Wiener Philharmoniker stehen müssten, wird man letzten Endes nicht darum herumkommen, dass diese 20 internationalen und zehn europäischen Orchester tatsächlich die führenden des Musikbetriebs sind.

Bleibt die Feststellung, dass Frauen derzeit über erste Positionen bei den zweiten Orchestern nicht hinauskommen. Ob sich, abgesehen von Joana Mallwitz, die Karrieren der Ukrainerin Oksana Lyniv, der Südkoreanerin Han-Na Chang, der Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla und der Finnin Susanna Mälkki konstant genug entwickeln, dass sie zur Chefdirigentinnen-Position eines der Top-Orchester führen, wird die Zukunft weisen. Im Moment herrscht bei Orchestern, und keineswegs nur bei denen im Spitzenfeld, das große Zaudern und Zögern.

Offiziell sagt niemand mehr dazu, als dass man den Chefdirigenten ohnedies nicht nach dem Geschlecht auswählt, sondern nach Können, internationalem Renommee und Führungsqualität. Inoffiziell ist die Rede von skeptischen Musikern und, ja: auch skeptischen Musikerinnen. Das ist die Kehrseite des Quotendenkens: Es soll keine Frau Chefdirigentin werden, nur, weil sie eine Frau ist. Da das gegenwärtig allerdings quasi automatisch nahezu allen Chefdirigentinnen immer noch anhaften würde, lässt man es lieber von vornherein; das Geschäft sei zu sensibel, um Experimente zu wagen, die man nicht einmal zurücknehmen könnte, ohne in den Geruch der Frauenfeindlichkeit zu geraten.

Dass es Frauen schwer haben, in Führungspositionen zu gelangen, gilt nicht nur für die klassische Musik. Ja, wenn eine Chefdirigentin irgendwann einmal auf der Hand liegen sollte, wenn es einen Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein in weiblich geben sollte, und zwar nicht nur als Klischee im Film „Tár“, sondern in Fleisch und Blut, dann gewiss. Aber vorerst gibt es keine Dirigentin mit einem Renommee, das für die Spitzen-Orchester der Welt groß genug ist. Am ehesten funktionieren die Karrieren, wenn frau ein eigenes Ensemble gründet, was im Alte-Musik-Bereich am besten klappt; da machen es Männer schließlich ebenso, und die Österreicherinnen Christine Pluhar und Michi Gaigg sind in diesem Segment höchst erfolgreich unterwegs.

Fazit: Es ist ein systemisches Versagen, dass die Top-Orchester trotz vorhandener Top-Dirigentinnen auf weibliche Pult-Chefs verzichten. Das kommt, weil die Führungspositionen der Klassik-Branche auch im außereuropäischen Raum in den meisten Bereichen von europäischen Traditionen geprägt und damit zumeist männlich sind. Lang genug hat es gedauert, dass bei Solisti:innen und Orchestermusiker:innen eine Geschlechterbalance hergestellt wurde.

Längst sind selbst männlich konnotierte Instrumente wie Trompeten, Posaunen, Basstuben, Kontrabässe, Pauken und Schlagzeuge in Frauenhänden keine Seltenheit mehr. Das aufzubrechen und eine Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, war freilich ein weiter Weg. Aber er kann beispielhaft sein: Nachdem die bis dahin männlich dominierten Orchester den prinzipiellen Widerstand aufgegeben hatten, führte dieser Weg über das hervorragende Können der Musikerinnen, das die Orchestervorstände nicht in Quoten-Not brachte, sondern fachlich überzeugte.

Im Fall der Dirigentinnen ist es ebenso: Chefdirigentinnen fallen nicht vom Himmel. Sie müssen ihr fachliches Können ebenso unter Beweis stellen können wie ihre männlichen Kollegen – und zwar mit gleichen Chancen. Das bedeutet, dass es höchste Zeit wäre, immer wieder Dirigentinnen zu engagieren, bei den Orchestermusiker:innen damit Überzeugungsarbeit zu leisten und gleichzeitig den Dirigentinnen die Chance zu geben, sich in Stellung zu bringen, sobald sich das Postenkarussell zu drehen beginnt. Das ist in der Regel ungefähr alle drei bis sechs Jahre der Fall. Nicht vergessen: Auch Männer werden in einem kontinuierlichen Prozess zum Pultstar aufgebaut. Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, warum das nicht mit Frauen ebenso möglich sein sollte.

Zum Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker mag es vorerst noch nicht reichen, das wird wohl auf längere Sicht in der Hand der alternden weißen Stars bleiben. Aber die wirklich bedeutenden Konzerte und Opernaufführungen könnten innerhalb relativ kurzer Zeit vom Geschlechterdenken befreit werden.

QOSHE - Die Chefdirigentin, das unbekannte Wesen - Edwin Baumgartner
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Die Chefdirigentin, das unbekannte Wesen

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25.11.2023

Was soll das Gerede, es gäbe keine Chefdirigentinnen? Und wie es sie gibt! Erst jüngst hat eine ihren Posten angetreten: Joana Mallwitz, Deutsche, gerade einmal 37 Jahre alt, hat in der Saison 2023/24 das Konzerthausorchester Berlin übernommen. Und die US-Amerikanerin Marin Alsop ist seit September 2019 Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien.

Na bitte, es geht ja.

Aber geht es wirklich? Zugegeben: Die Liste der Frauen, die weltweit Chefdirigent:innen-Positionen bekleiden, ist relativ lang. Sie hat nur einen Haken, und der ist gravierend: Die international bedeutenden Orchester setzen nach wie vor auf Männer.

Das britische Musikmagazin Gramophone hat eine Liste der 20 weltbesten Orchester erstellt, und sie zeichnet, was Chefdirigentinnen betrifft, ein eindeutiges Bild.

Die Wiener Philharmoniker sind heraußen, sie haben traditionell keine Chefdirigent:innen, egal welchen Geschlechts. Das Concertgebouw-Orchester Amsterdam agiert derzeit ohne Chef:in. Die Berliner Philharmoniker leitet Kirill Petrenko, beim London Symphony Orchestra hat Antonio Pappano soeben Simon Rattle abgelöst, der zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wechselt; das Chicago Symphony Orchestra hat Riccardo Muti zum Musikdirektor auf Lebenszeit ernannt, Franz Welser-Möst ist Chef des Cleveland Orchestra und Gustavo Dudamel sein Amtskollege beim Los Angeles Philharmonic. Das Budapest Festival Orchestra ist bei seinem Gründer Iván Fischer ebenso in Männerhänden wie die Sächsische Staatskapelle Dresden, die sich im kommenden Jahr aus denen Christian Thielemanns in die Daniele Gattis begibt.

Das lässt........

© Wiener Zeitung


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