Einen russischen Staatschef wie Wladimir Putin hatte die Welt noch nicht gekannt.

Altersabhängig hatte man eventuell noch Nikita Chruschtschow in Erinnerung, der, raffiniert bauernschlau, schon einmal mit dem Schuh auf den Tisch schlug, um sich bei den UN Gehör zu verschaffen. Dann war da der versteinerte Leonid Breschnew, lebendiges Symbol für die Stagnation in der Sowjetunion. Selbst dem hochintelligenten und redegewandten Michail Gorbatschow haftete ein Geruch nach Schwarzerde und Traktorentreibstoff an. Und Boris Jelzin mit seinen Alkoholexzessen und seinem schwankenden Temperament zwischen Willenlosigkeit und brutalem Durchsetzungsvermögen war überhaupt fleischgewordenes Russ:innenklischee.

Und dann, 1999, Wladimir Wladimirowitsch Putin, vorerst von Boris Jelzin eingesetzter Ministerpräsident: Wirklich jung war der am 7. Oktober 1952 in Leningrad Geborene mit 47 Jahren zwar nicht. Aber die Ausstrahlung hatte der mittelgroße, drahtige Mann: dynamisch, elegant, witzig. Putin hatte das Betragen eines internationalen Filmstars, eines Spitzendirigenten. In Wahrheit stammt er aus einer Arbeiter:innenfamilie, war Agent des KGB und als solcher in der DDR stationiert gewesen.

Sein Charme mag antrainiert sein, jedenfalls bezaubert er den Westen. Im Gespräch wechselt Putin mühelos vom Smalltalk in komplexe philosophische Überlegungen, kennt sich aus in Literatur und klassischer Musik, setzt sich ans Klavier und auf Pferde. Mit seinen Reden begeistert er die Massen, Gesprächspartner:innen mit seiner Fähigkeit zuzuhören. Er hat die besondere Begabung, seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, in diesem Moment die wichtigste Person im Raum zu sein.

Nachdem Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt worden war, erklärte er, die enge Zusammenarbeit von Europa und Russland sei für beide Seiten notwendig. Sogar eine Annäherung, wenn nicht gar einen Beitritt Russlands zur NATO stellte Putin in Aussicht. Der Deutsche Bundestag öffnete ihm 2001 seine Tore, und der russische Staatschef hielt seine Rede in einem so geschliffenen Deutsch, dass Muttersprachler:innen neidisch wurden. Der ganze Westen verfiel ihm. Staatschefs und Prominente buhlten um seine Anwesenheit. Jede:r wollte ihn kennenlernen.

Und man sollte ihn kennenlernen, diesen Wladimir Wladimirowitsch Putin. Und wie man ihn kennenlernen sollte.

Doch das ist die Kehrseite der Medaille, die vorerst verdeckt lag.

Gewiss hätte man es – vielleicht nicht wissen, aber ahnen hätte man es können. Schon 2003, noch auf dem Höhepunkt der allgemeinen Putin-Euphorie, veröffentlichte die russische Journalistin Jelena Wiktorowna Tregubowa ihr Buch „Baiki kremljowskowo diggera“ (Geschichten vom Kreml-Ausgräber) und setzte im Jahr darauf mit „Proschtschanie kremljowskowo diggera“ (Der Abschied des Kreml-Ausgräbers) fort. Auf Deutsch erschien eine Zusammenfassung beider Bücher unter dem Titel „Die Mutanten des Kreml“ im Jahr 2006.

Tregubowa zeigt darin Putin als grandiosen Manipulator, als einen Meister der Täuschung und der Verführung. Sie schildert eine groteske Szene, in der das Volk zu Ostern auf die Öffnung der Kirchentore wartet – und als sie aufgehen, steht dort nicht etwa der Geistliche, sondern Putin: Der Staatschef, der sich zum Messias, oder zumindest zu dessen Stellvertreter, aufschwingt.

Tregubowas Bücher werden im Westen kaum wahrgenommen. Wer sie dennoch liest, glaubt an eine persönliche Aversion der Autorin. Zu heftig scheint ihre Hasstirade, zu groß ihre Sympathie für Jelzin und die postkommunistischen Oligarchen, die Putin in die Schranken weist und demütigt: Jede:r in Russland kennt das Video, wie Putin den Oligarchen Oleg Deripaska zwingt, eine Fabrik, die er schließen wollte, weiterzubetreiben, damit die Menschen ihre Arbeitsplätze behalten. Zu guter Letzt bietet Putin Deripaska eine Füllfeder an, um den ungeliebten Vertrag zu unterzeichnen – und verlangt sie unmittelbar darauf zurück, womit er signalisiert, er habe den Oligarchen als einen Menschen durchschaut, der in seiner Gier nimmt, was er bekommen kann.

Der Westen verzeiht Putin sogar den zweiten Tschetschenienkrieg, den der russische Präsident gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit beginnt. Tschetschenien ist weit weg von Mitteleuropa und obendrein nicht ganz geheuer: Da gab es doch Terror tschetschenischer Freischärler, mitten in Moskau sprengten sie ein Wohnhaus. Wenn die USA Krieg gegen den Terror führen können – weshalb soll sich Russland der guten Sache nicht anschließen?

Dass der Terrorakt auf Befehl Putins aus innenpolitischen Gründen erfolgt sein könnte, da er sich als vorerst nur von Jelzin eingesetzter Ministerpräsident im Jahr 2000 der Wahl zum Präsidenten stellen musste und die Kommunisten als starke Gegner hatte, gilt, je nach Distanz zu Putin, als möglich bis wahrscheinlich.

Doch es war der Fall Anna Politkowskaja, der im Westen ein erstes Nachdenken über das System Putin verursachte. Was die Journalistin aus dem zweiten Tschetschenienkrieg berichtete, stand in kontinuierlichem Widerspruch zu den offiziellen Darstellungen: Sie schilderte einen schmutzigen Krieg, in dem die russische Armee raubte, folterte und mordete. Ihre Reportagen belasteten den Putin-loyalen tschetschenischen Politiker Ramsan Kadyrow ebenso wie, mehr oder weniger direkt, Putin selbst. 2004 überlebte sie knapp einen Giftanschlag. Am 7. Oktober 2006 wurde sie im Aufzug ihres Wohnhauses getötet.

Der 7. Oktober ist Putins Geburtstag.

Die russischen Untersuchungsbehörden ließen ohne Namensnennung durchblicken, dass der im Ausland lebende Oligarch Boris Beresowski der Auftraggeber des Mordes gewesen sei. Im Westen stand fest, dass Putin zumindest den Boden für das Attentat bereitet hatte.

Überhaupt scheint um die Zeit der nächsten Präsidentschaftswahl (2004) oder knapp nachher etwas in Putin vorgegangen zu sein, das zu immer befremdlicheren Entscheidungen führte. Die Wahl lief zwar, westlichen Beobachtern zufolge, demokratisch ab. Doch noch im gleichen Jahr sicherte sich Putin einen beträchtlichen Machtzuwachs, indem er das Vorschlagsrecht für die bisher frei gewählten Gouverneure auf das Amt des Präsidenten und damit auf sich selbst übertrug.

Ob Putin zu dieser Zeit den Ideen des nationalistischen Philosophen Alexander Geljewitsch Dugin verfiel oder von sich aus die gleichen Schlüsse zog, ist umstritten. Tatsache ist, dass Dugins Thesen von einem großrussischen Reich unter den moralischen Regeln der orthodoxen Kirche in immer weiteren Kreisen der russischen Eliten Fuß fassten und fassen. Groß-Russland bedeutet Russland in den Grenzen des Zarenreichs oder gar in denen der Sowjetunion. In beiden Auslegungen ist die Ukraine Teil Russlands.

Jedenfalls beklagte Putin in einer Rede im Jahr 2005 den Zerfall der Sowjetunion. In seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 grenzte er, der einst so offen auf Europa zugegangen war, sich scharf vom Westen ab. Für ihn strebten die USA jetzt, ganz wie in der Vergangenheit des Kalten Kriegs, nach einer „monopolaren Weltherrschaft“ und die NATO missachte seiner Auffassung nach russische Sicherheitsinteressen.

Die Feststellung über die NATO mochte sogar bis zu einem gewissen Grad stimmen, doch ab diesem Moment gebärdete sich Putin als der Erlöser eines missachteten und gedemütigten Russland, dem allein er den Glanz vergangener Zeiten zurückgeben könne.

Nun verfängt solch eine Argumentation durchaus in der ohnedies selbstreflexiven russischen Gesellschaft.

Dem Westen blieb unterdessen nur, den Umbau Russlands in das Reich Putins zu beobachten. Nicht nur, weil Putin durch innenpolitische Winkelzüge über alle gesetzlichen Amtsdauern hinaus an der Macht blieb, sondern auch, weil diese Macht tatsächlich auf seine Person konzentriert ist, ganz, wie es die Zaren und später nur noch Josef Stalin praktiziert hatten. Hand in Hand damit geht das Wiedererwachen des Personenkults der Zaren- und Stalin-Zeit.

Mittlerweile agiert Putin als Diktator. Die Reaktionen des Auslands kümmern ihn nicht mehr. Gezielt lässt er durch seine Netzwerke ultrarechte Kräfte im Westen unterstützen, um die demokratischen Ordnungen zu destabilisieren. Dass ihn der Westen isoliert, ist ihm gleichgültig. Er weiß, dass die Welt um Russland nicht herumkommt. Ebenso weiß er, dass niemand, der halbwegs vernunftbegabt ist, einen Krieg mit Russland riskieren wird, der ein Weltvernichtungskrieg wäre. Prominente Gegner:innen lässt er aus dem Weg räumen, oder sie werden von seiner Umgebung mit seiner Billigung in vorauseilendem Gehorsam eliminiert. Die russische Demokratie ist zur Farce geworden, sie ist eine Kulisse gleich einem Potemkin‘schen Dorf, das flüchtige Beobachter:innen täuschen soll. Präsidentschaftswahlen dienen nicht mehr der demokratischen Entscheidungsfindung, sondern der Selbstinszenierung Putins als Triumphator. Nicht einmal die Sanktionsserien in Folge seines Angriffs auf die Ukraine scheinen seine Überzeugung zu erschüttern, Russland zu neuer Größe zu führen. Allein, nur gestützt auf wenige Berater:innen, die seine Ideen teilen, trifft er zunehmend irrationale Entscheidungen, deren Realität ein Krieg ist, in dem nicht nur Ukrainer:innen sterben, sondern auch die Söhne russischer Eltern verheizt werden. Die Verwundeten und Gefallenen sind oft so jung, dass sie nicht einmal verstehen, für welchen Wahn sie in den Krieg ziehen mussten.

Am 17. März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Putin: Es bestehe der begründete Verdacht von Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Ukraine und der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland unter der Vorgesetztenverantwortlichkeit von Putin.

Am 17. März 2024 wird Wladimir Wladimirowitsch Putin als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervorgehen.

Wer glaubt, das Datum sei ein Zufall, ahnt nicht, welchen Wert die russische Gesellschaft und vor allem russische Machthaber Symbolen beimessen.

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Die Wandlung des Wladimir Putin

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24.03.2024

Einen russischen Staatschef wie Wladimir Putin hatte die Welt noch nicht gekannt.

Altersabhängig hatte man eventuell noch Nikita Chruschtschow in Erinnerung, der, raffiniert bauernschlau, schon einmal mit dem Schuh auf den Tisch schlug, um sich bei den UN Gehör zu verschaffen. Dann war da der versteinerte Leonid Breschnew, lebendiges Symbol für die Stagnation in der Sowjetunion. Selbst dem hochintelligenten und redegewandten Michail Gorbatschow haftete ein Geruch nach Schwarzerde und Traktorentreibstoff an. Und Boris Jelzin mit seinen Alkoholexzessen und seinem schwankenden Temperament zwischen Willenlosigkeit und brutalem Durchsetzungsvermögen war überhaupt fleischgewordenes Russ:innenklischee.

Und dann, 1999, Wladimir Wladimirowitsch Putin, vorerst von Boris Jelzin eingesetzter Ministerpräsident: Wirklich jung war der am 7. Oktober 1952 in Leningrad Geborene mit 47 Jahren zwar nicht. Aber die Ausstrahlung hatte der mittelgroße, drahtige Mann: dynamisch, elegant, witzig. Putin hatte das Betragen eines internationalen Filmstars, eines Spitzendirigenten. In Wahrheit stammt er aus einer Arbeiter:innenfamilie, war Agent des KGB und als solcher in der DDR stationiert gewesen.

Sein Charme mag antrainiert sein, jedenfalls bezaubert er den Westen. Im Gespräch wechselt Putin mühelos vom Smalltalk in komplexe philosophische Überlegungen, kennt sich aus in Literatur und klassischer Musik, setzt sich ans Klavier und auf Pferde. Mit seinen Reden begeistert er die Massen, Gesprächspartner:innen mit seiner Fähigkeit zuzuhören. Er hat die besondere Begabung, seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, in diesem Moment die wichtigste Person im Raum zu sein.

Nachdem Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt worden war, erklärte er, die enge Zusammenarbeit von Europa und Russland sei für beide Seiten notwendig. Sogar eine Annäherung, wenn nicht gar einen Beitritt Russlands zur NATO stellte Putin in Aussicht. Der Deutsche Bundestag öffnete ihm 2001 seine Tore, und der russische Staatschef hielt seine Rede in einem so geschliffenen Deutsch, dass Muttersprachler:innen neidisch wurden. Der ganze Westen verfiel ihm. Staatschefs und Prominente buhlten um seine Anwesenheit. Jede:r wollte ihn kennenlernen.

Und man sollte ihn kennenlernen, diesen Wladimir Wladimirowitsch Putin. Und wie man ihn kennenlernen sollte.

Doch das ist die Kehrseite der Medaille, die vorerst verdeckt lag.

Gewiss hätte man es – vielleicht nicht wissen, aber ahnen hätte man es können. Schon 2003, noch........

© Wiener Zeitung


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