Während die israelische Armee (IDF) beginnt, Evakuierungs- und Zerstörungspläne für Rafah zu wälzen, stellt sich für ihre Kommandanten und zunehmend für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die scheinbar simple, in Wahrheit jedoch nahezu unbeantwortbare Frage: Was kommt danach?

Rafah ist die südlichste Stadt des Gazastreifens. Die israelische Armee hat das Gebiet von Norden kommend verwüstet. Die Bevölkerung Gazas, so lauteten die ursprünglichen Aufforderungen der Armee, solle in den Süden umziehen. Das Ergebnis: 1,9 Millionen Palästinenser:innen sind jetzt laut Human Rights Watch „Displaced Persons“. „Displaced Persons“ sind Menschen, die ihre heimatliche Umgebung verlassen mussten.

In Rafah aber ist Schluss, denn Rafah liegt direkt an der Grenze zu Ägypten. Von Rafah aus geht es für die Palästinenser:innen nur weiter, wenn Ägypten zustimmt – was nach derzeitigem Stand unwahrscheinlich ist: Ägypten will sich kein politisches Problem mit der Aufnahme der Palästinenser:innen einhandeln. Denn sind die Palästinenser:innen einmal aus dem Gazastreifen vertrieben, wäre das ein erster Schritt für den Plan israelischer Ultra-rechts-Politiker:innen, den Gazastreifen gemäß der „Eretz Israel“-Formel Israel anzugliedern.

Der wichtigste Verbündete von Israel sind jedoch die USA, und deren Präsident Joe Biden macht kein Hehl daraus, dass er dieser Idee nichts abgewinnen kann. Im Gegenteil: Biden drängt auf die Zwei-Staaten-Lösung.

Netanjahu spricht laut dem Newsletter von Israel heute davon, dass, sobald die Invasion von Rafah beginnt, Israel nur noch „Wochen vom kompletten Sieg entfernt” sein wird. Die israelischen Streitkräfte werden in Rafah auf jeden Fall zuschlagen, sagt Netanjahu. Selbst das mögliche Abkommen über eine Waffenruhe, das derzeit in Doha diskutiert wird, wird daran nichts ändern: „Wenn wir ein Abkommen haben, wird sich [die Operation, Anm.] etwas verzögern, aber sie wird stattfinden“, sagte der israelische Ministerpräsident. Die Operation in Rafah nicht durchzuführen, sei eine Kapitulation vor der Hamas.

Mag sich ein Ende des Gazakriegs zaghaft abzeichnen, so sind die Fäden allerdings verworrener denn je zuvor. Denn Netanjahu hat zunehmend mit Protesten gegen seine Regierung zu kämpfen: Sie entzünden sich einerseits an der mittlerweile auf März verschobenen Justizreform, andererseits daran, dass sich immer noch 134 Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Eine wachsende Zahl Israelis macht dafür die Terrororganisation ebenso verantwortlich wie den israelischen Ministerpräsidenten, der mit seiner umstrittenen Justizreform wie mit seiner Siedlungspolitik die Aufmerksamkeit der israelischen Sicherheitskräfte an Nebenschauplätze gebunden hat und jetzt keine Möglichkeit findet, die von der Hamas verschleppten Menschen nach Hause zu bringen.

Ungeachtet dessen ist Netanjahus Hoffnung, aus dem Gazakrieg gleichsam als Erlöser Israels vom Terror der Hamas hervorzugehen. In diesem Licht ist sein Nachkriegsplan „Der Tag nach der Hamas“ zu verstehen: Israel übernimmt die Sicherheitskontrolle für das Westjordanland und den Gazastreifen. Die israelische Armee erhält auf unbestimmte Zeit die volle Handlungsfreiheit im Gazastreifen. Im Gazastreifen wird eine Pufferzone eingerichtet. Die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens wird völlig entmilitarisiert und die südliche Grenze zu Ägypten wird abgeriegelt. In der Folge ernennt Israel „lokale Verantwortliche“, die nicht mit der Hamas in Verbindung stehen. Sie sollen Gebiete im Gazastreifen verwalten. Gleichzeitig soll ein Deradikalisierungsprozess speziell an den Schulen einsetzen, und zwar auf der Basis von Unterrichtsmaterialien, die keine Ablehnung des Staates Israel mehr enthalten. Ein weiteres Ziel Netanjahus ist die Zerschlagung der UNRWA, des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen. An seine Stelle soll eine internationale Hilfsorganisation treten.

In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Faktum bemerkenswert: Anfang der Woche hat in der Knesset, dem Parlament Israels, eine Abstimmung stattgefunden, in der 99 von 110 abstimmenden Abgeordneten für einen früheren Regierungsbeschluss gegen „internationale Diktate bezüglich einer dauerhaften Regelung mit den Palästinensern“ gestimmt haben.

Dieses Votum kommt nur scheinbar aus dem Nichts. Tatsächlich befürchten Netanjahu und seine Hardliner-Regierung offenbar, dass Biden seinem Drängen auf eine Zwei-Staaten-Lösung mit einer Anerkennung eines Palästinenserstaats Nachdruck verleihen könnte, oder dass sich gar der Plan des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell durchsetzen könnte, der vorsieht, in einer Konferenz unter Ausschluss sowohl Israels als auch der Palästinenser:innen eine Lösung zu entwickeln und sie durch internationalen Druck beiden Seiten gleichsam von außen aufzuzwingen, während Netanjahu zumindest zum jetzigen Zeitpunkt die Zwei-Staaten-Lösung als „Belohnung für Terrorismus“ ablehnt.

Mittlerweile wachsen im Gazastreifen die humanitären Probleme: In Rafah sind 1,5 Millionen Menschen und damit mehr als die Hälfte der 2,3 Millionen Gazastreifen-Palästinenser:innen ins Fadenkreuz der israelischen Armee geraten, nachdem sie zu Beginn der Kampfhandlungen in diese sogenannte humanitäre Zone gedrängt worden waren. Zu normalen Zeiten hat Rafah 300.000 Einwohner:innen. Mit Berufung auf den US-Geheimdienst berichtet das Wall Street Journal, dass 70 Prozent der Häuser im Gazastreifen Kriegsschäden haben (Stand Ende Dezember 2023; neuere Zahlen konnten nicht eruiert werden). Times of Israel berichtet von 45 Prozent irreparabel zerstörtem Wohnraum. Dazu kommt, dass, so berichtet Human Rights Watch, israelische Bulldozer die ohnedies knappen Agrarflächen im Nordosten des Gazastreifens niedergewalzt haben, um israelischen Militärfahrzeugen das Vorankommen zu erleichtern. Die Menschenrechtsorganisation vermutet dahinter, dass Israel Hunger als Mittel der Kriegsführung einsetzt.

Völkermord an den Palästinenser:innen – das ist der Vorwurf, den Südafrika gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag erhoben und damit ein Verfahren eingeleitet hat. Doch in Wahrheit scheint weniger ein Genozid als ein Domizid vorzuliegen.

Genozid bedeutet, dass ein Aggressor eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die sich durch Sprache, Religion und Tradition unterscheidet, mit dem Ziel ihrer Auslöschung verfolgt. Im Fall eines Kriegs wie dem im Gazastreifen ist eine Unterscheidung zwischen Völkermord, strategischen Erfordernissen und teilweise auch durch die Vorgehensweise der Hamas in die Höhe getriebenen Kollateralschäden kaum möglich.

Was sich indessen abzuzeichnen beginnt, ist eine militärische Vorgehensweise, die am Wohnraum und der Infrastruktur größtmöglichen Schaden anrichtet. Kurz gesagt: Der Gazastreifen wird unbewohnbar gebombt und geschossen. Während ein Genozid ein strafbarer Tatbestand ist, unterliegt ein Domizid gegenwärtig keiner Rechtsprechung.

Netanjahu sieht einen totalen Sieg Israels über die Hamas voraus. Dass er deren extremistisches, israelfeindliches und antisemitisches Gedankengut ebenfalls besiegen kann, scheint angesichts der nahezu flächendeckenden Zerstörung der Heimat von 2,3 Millionen Palästinenser:innen unwahrscheinlich. Dass der Gazakrieg von der Hamas mit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023, der Ermordung von 1.200 und der Entführung von 253 Menschen vom Zaun gebrochen wurde, steht außer Frage.

Ebenso steht jedoch außer Frage, dass es, wie Österreichs Ex-Bundespräsident Heinz Fischer feststellte, auch für die Verteidigung Grenzen geben muss. Vernichtete Äcker, Häuserruinen und Leichen von jüdischen wie palästinensischen Zivilist:innen sind ein denkbar ungeeignetes Fundament, um darauf einen dauerhaften Frieden zu errichten.

QOSHE - Rafah zittert vor Israels Zorn - Edwin Baumgartner
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Rafah zittert vor Israels Zorn

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08.03.2024

Während die israelische Armee (IDF) beginnt, Evakuierungs- und Zerstörungspläne für Rafah zu wälzen, stellt sich für ihre Kommandanten und zunehmend für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die scheinbar simple, in Wahrheit jedoch nahezu unbeantwortbare Frage: Was kommt danach?

Rafah ist die südlichste Stadt des Gazastreifens. Die israelische Armee hat das Gebiet von Norden kommend verwüstet. Die Bevölkerung Gazas, so lauteten die ursprünglichen Aufforderungen der Armee, solle in den Süden umziehen. Das Ergebnis: 1,9 Millionen Palästinenser:innen sind jetzt laut Human Rights Watch „Displaced Persons“. „Displaced Persons“ sind Menschen, die ihre heimatliche Umgebung verlassen mussten.

In Rafah aber ist Schluss, denn Rafah liegt direkt an der Grenze zu Ägypten. Von Rafah aus geht es für die Palästinenser:innen nur weiter, wenn Ägypten zustimmt – was nach derzeitigem Stand unwahrscheinlich ist: Ägypten will sich kein politisches Problem mit der Aufnahme der Palästinenser:innen einhandeln. Denn sind die Palästinenser:innen einmal aus dem Gazastreifen vertrieben, wäre das ein erster Schritt für den Plan israelischer Ultra-rechts-Politiker:innen, den Gazastreifen gemäß der „Eretz Israel“-Formel Israel anzugliedern.

Der wichtigste Verbündete von Israel sind jedoch die USA, und deren Präsident Joe Biden macht kein Hehl daraus, dass er dieser Idee nichts abgewinnen kann. Im Gegenteil: Biden drängt auf die Zwei-Staaten-Lösung.

Netanjahu spricht laut dem Newsletter von Israel heute davon, dass, sobald die Invasion von Rafah beginnt, Israel nur noch „Wochen vom kompletten Sieg entfernt” sein wird. Die israelischen Streitkräfte werden in Rafah auf jeden Fall zuschlagen, sagt Netanjahu. Selbst das mögliche Abkommen über eine Waffenruhe, das derzeit in Doha diskutiert wird, wird daran nichts ändern: „Wenn wir ein Abkommen haben, wird sich [die Operation, Anm.] etwas verzögern,........

© Wiener Zeitung


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