So absurd es ist: prinzipiell ja. Unwahrscheinlich ist die Höhe der Zustimmung, doch die Mehrheit der Russ:innen dürfte für Putin sein. Allerdings ist ihr Wille durch Jahrzehnte hindurch manipuliert. Putin hat die kritischen Medien in Russland weitestgehend ausgeschaltet. Politisch engagierte Gegner:innen seines Systems landen im Gefängnis oder kommen unter mehr oder minder ungeklärten Ursachen ums Leben, und ernstzunehmende Gegenkandidaten werden zur Wahl nicht zugelassen. Der Personenkult ist so stark wie seit der Zeit von Josef Stalin (Regierungschef von 1922-1953) nicht mehr. Putin hat sich gleichsam zum Selbstläufer gemacht.

Das Demonstrationsrecht ist stark eingeschränkt. Wer gegen Putin demonstriert, läuft Gefahr, dass ein Gericht einen Grund für eine Verurteilung findet und hohe Haftstrafen ausspricht. Russ:innen sind allerdings seit der repressiven Zeit des Kommunismus geschickt darin, ihren Unmut im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben selbst eines Unrechtsstaates auszudrücken. So hat Julija Nawalnaja, die Witwe des in einem Strafgefangenenlager gestorbenen, vermutlich ermordeten, Oppositionellen Alexei Anatoljewitsch Nawalny, auf Basis einer Idee ihres Mannes die Aktion „Mittag gegen Putin“ ausgerufen: Wer gegen Putin ist, solle am Sonntag um zwölf Uhr zur Wahl kommen. Die Menschenschlangen vor den Wahllokalen wären dann gleichsam Symbole für die gegen Putin gerichteten Demonstrationszüge, die zweifellos nicht zugelassen oder gewaltsam aufgelöst worden wären. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft mit Strafverfahren wegen Behinderung der Wahl gedroht. Dennoch bildeten sich in russischen Städten, vor allem aber vor den russischen Botschaften, in denen Auslandsruss:innen wählen konnten, am Sonntag zu Mittag lange Schlangen.

Wie alle Staatsoberhäupter, egal, ob demokratisch oder undemokratisch an der Macht, beschwor Putin nach der Wahl die Einheit der Nation. Inwiefern man Putin Bezeugungen von Kulanz glauben kann, ist allerdings die große Frage. Beispielsweise wäre er laut einer Aussage auf einer Nachwahl-Pressekonferenz bereit gewesen, Nawalny im Austausch gegen eine im Ausland inhaftierte Person aus Putins Kreis freizulassen und ihn dann aus Russland ohne Rückkehrungsrecht auszuweisen. Nur sei Nawalnys Tod dazwischengekommen. Ebenso hat Putin Sympathien für den Plan des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erkennen lassen, für die Dauer der Olympischen Spiele (26. Juli bis 11. August) einen Waffenstillstand in der Ukraine einzuhalten.

Der ukrainische Karren ist extrem verfahren. Vor den Wahlen hat Putin in einem Interview gesagt, er sei zu Verhandlungen bereit, diese müssten aber auf der Basis der derzeitigen militärischen Realität stattfinden. Das heißt, dass Putin zu Verhandlungen nur dann bereit ist, wenn die Ukraine von vornherein zustimmt, die derzeit von Russland besetzten Gebiete an Russland abzutreten. Tatsache ist, dass Putin immer wieder die Notwendigkeit eines russischen Erfolgs in der Ukraine beschwört. Damit manövriert er sich in eine Lage, in der jegliches Nachgeben eine Niederlage bedeutet. Er braucht etwas, das er als Zeichen seines Triumphs ausgeben kann.

Putin behauptet, er führe den Krieg, um russische Sicherheitsbedenken durchzusetzen. Das Problem ist nicht völlig abwegig: Putin fürchtet, dass die NATO oder die USA in der Ukraine Raketen aufstellen. Das vielbeschworene Gleichgewicht des Schreckens bedeutet nicht nur Waffengleichheit, sondern auch Zeitgleichheit zur Zerstörung. Soll heißen: Wenn die Raketen des einen die Städte des anderen wesentlich früher treffen können, ist die Balance nicht mehr gegeben. Sollten die NATO oder die USA in der Ukraine Raketen aufstellen, könnten diese Moskau wesentlich früher treffen als gleichzeitig gestartete russische Raketen Washington. Putin begreift mittlerweile sowohl die USA wie die NATO als aggressive Feindmächte. In seinem Denken würden westliche Raketen in der Ukraine einen US- oder NATO-Erstschlag gegen Russland möglich bis wahrscheinlich machen. Das ist das eine Argument, dem man eventuell noch folgen kann. Das andere ist wesentlich irrationaler, nämlich die Wiederherstellung Groß-Russlands in den Grenzen des Zarenreichs oder gar in denen der Sowjetunion. Putin ist überzeugt, er müsse die Demütigungen, die der Westen Russland zugefügt hat, gutmachen, indem er Russland als Imperium wiederherstellt.

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Russland nie völlig mit seiner Vergangenheit als kommunistische Sowjetunion abgeschlossen hat. Als Österreicher:in kann man das am besten verstehen, wenn man an die k.u.k.-Nostalgie vieler Landsleute denkt. In Russland kommt der Zweite Weltkrieg dazu, den Stalin nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschland zum Großen Vaterländischen Krieg erklärt hat, und dessen Mythisierung bis heute die russische Gesellschaft über Generationen hinweg eint. Es ist kein Zufall, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine unter anderem damit argumentiert, Russland müsse sie von Nationalsozialisten befreien. In der Ära von Michail Gorbatschow zerfielen Sowjetunion und Warschauer Pakt, und in der Boris-Jelzin-Zeit verlor Russland seine Identität. Sowohl der Zerfall der im Großen Vaterländischen Krieg über Grenzen von Regionen und Völkerschaften hinweg geeinten Sowjetunion wie die Dekadenz der Jelzin-Zeit empfindet Putin übereinstimmend mit einer großen Bevölkerungsmehrheit als westliche Demütigung: den Zerfall der Sowjetunion aufgrund der von den USA aufgezwungenen Rüstungsspirale, die die Sowjetunion schließlich nicht mehr finanzieren konnte, und die Dekadenz der Jelzin-Zeit, da westliche Konzerne eine Spaßgesellschaft implementierten, in der sich Russ:innen hoch verschuldeten, um Luxus- und Konsumgüter erwerben und ein Leben weit über die eigenen Verhältnisse führen zu können, während gleichzeitig Oligarchen extremen Reichtum anhäuften. Putin will beide Entwicklungen zurückdrehen: Er will Russland die in der Jelzin-Zeit verlorene kulturelle Identität und die in der Gorbatschow-Ära verlorenen alten Grenzen zurückgeben.

Eher ja als nein. Im groß-russischen Denken Putins ist die Ukraine ein Teil Russlands, genau genommen sogar russisches Kernland. Die alte Bezeichnung für die Ukraine ist Klein-Russland. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern ein Sprachgebrauch, der geschichtliche Zusammenhänge beschreibt. Klein-Russland existierte vor Groß-Russland: Aus dem Kiewer Reich ist das russische Reich der Zarenzeit hervorgegangen. Groß-Russland bedeutet also Russland in den heutigen Grenzen plus zumindest dem historischen Kernland, der Ukraine. Putin wird den Krieg gegen die Ukraine also so lang fortsetzen, bis er entweder einen relevanten Gebietsgewinn für Russland verzeichnen kann oder bis seine Armee und ihr Waffenarsenal dermaßen ausgelaugt sind, dass eine Fortsetzung des Krieges keinen Sinn hat oder gar unmöglich wird.

Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.

Die Ukraine hat ihre aus Sowjetzeiten stammenden Atomwaffen abgegeben. Damit ist ein ukrainischer Erstschlag derzeit unmöglich. Ein Erstschlag eines westlichen Landes ist in hohem Maß unwahrscheinlich, denn dessen Regierung müsste sich dem Vorwurf stellen, den dritten Weltkrieg vom Zaun gebrochen zu haben. Demokratisch regierte Staaten werden das nicht verantworten. Bleibt Putin selbst. Doch so irrational er agieren mag: Letzten Endes weiß selbst er, dass auf seinen Erstschlag der Zweitschlag der USA oder der NATO folgen würde mit dem Resultat einer letzten Endes völligen Zerstörung Russlands. Fantasien von einem heldenhaften Untergang hat Putin bis jetzt nicht geäußert. Die größere Gefahr ist das Modell des Ersten Weltkriegs: Was als Strafaktion des k.u.k. Österreich gegen Serbien begonnen hat, ließ aufgrund von Bündnissen und Beistandspakten immer mehr Länder in die Auseinandersetzung hineinschlittern, bis aus dem regional begrenzten Konflikt ein Weltkrieg wurde. Theoretisch könnte sich das im Krieg gegen die Ukraine wiederholen, etwa dann, wenn es Russland gelingen sollte, die Ukraine niederzuringen, NATO und USA das jedoch nicht akzeptieren und mit eigenen Truppen die Entwicklung zurückdrehen wollen. Auf diese Weise könnte sich der Konflikt zum Atomkrieg steigern – nämlich, wenn die zweifellos überlegenen Truppen von NATO und USA Russland in die Enge treiben und der russische Befehlshaber keine andere Möglichkeit zum Befreiungsschlag sieht, als Atomwaffen einzusetzen.

Lettland und Litauen sind NATO-Staaten und gleichzeitig Länder, die zu dem Groß-Russland gehören, dessen Grenzen Putin wiederherstellen will. Es gibt allerdings für Putin einen Haken: Ihm wird gerade vor Augen geführt, dass seine Armee an der Eroberung der Ukraine scheitert. Selbst Putin versteht, dass er in einem Krieg gegen die NATO unterliegen wird, egal, ob dieser Krieg mit atomaren oder mit konventionellen Waffen geführt wird. Daher ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Putin mittels Desinformation die demokratischen Systeme des Westens gezielt destabilisieren wird; er wird sogenannte Querdenker:innen und die Szene der Verschwörungstheoretiker:innen weiter stärken und Wasser auf die Mühlen ultrarechter Parteien gießen, die, sollten sie Macht und Einfluss gewinnen, die Distanz zu Russland aufgeben werden. Selbst die USA könnten ins Schwanken geraten, sollte, was sich abzeichnet, der außenpolitische irrlichternde Donald Trump an die Macht kommen.

Kurz gesagt: schlecht. Als Modell können die Februar- und die Oktoberrevolution dienen, da sie den grundlegenden Regimewechsel herbeiführten. Russland war drauf und dran, im Ersten Weltkrieg zu unterliegen. Die Kriegsopferzahlen stiegen ins Unermessliche. In Russland selbst herrschten Hunger und Armut, während die absolutistisch regierende Zarenfamilie im Prunk und völlig abgehoben vom Volk lebte. Das ausschlaggebende Versprechen der Kommunisten, das zur Oktoberrevolution führte, war, durch einen Separatfrieden aus dem Krieg auszuscheiden. Sowohl die Februarrevolution als auch die Oktoberrevolution gaben dem Volk Perspektiven, nämlich Freiheit von der zaristischen Herrschaft und Frieden und eine dynamische Entwicklung der Gesellschaft. Keine Revolution kommt ohne eine Perspektive zustande. Daher unterdrückt das System Putin sämtliche Perspektiven, die breiten Bevölkerungsschichten Lust auf einen Regimewechsel machen könnten. Selbst der zermürbende Krieg in der Ukraine ist kein Motor für eine Revolution, da es Putin in einer Meisterleistung der Massenmanipulation gelungen ist, diesen Krieg als Notwendigkeit darzustellen und gleichzeitig oppositionelle Positionen zu beseitigen.

Die „biologische Lösung“ wird oft ins Treffen geführt, dürfte aber Wunschdenken sein. Putin werden seit Jahrzehnten tödliche Erkrankungen angedichtet – keine davon hat sich bewahrheitet. Ein Attentat ist unwahrscheinlich, da Putin der wohl am besten abgeschirmte Staatsmann aller Zeiten ist. Und selbst, wenn: Putin ist nicht allein eine Person. Er hat das System Putin geschaffen: Eine Pseudo-Demokratie, in der es dem einzelnen Menschen gut genug geht, dass ihn kein Leidensdruck aufrüttelt, das System an sich zu hinterfragen. Das System Putin wird sich über Putin hinaus erhalten, möglicherweise in der Person von Sergej Kirijenko, seinem Innenpolitik-Chef, Wahlorganisator und Statthalter in der besetzten Ostukraine. Kirijenkos Stab betreut die innerrussische Pro-Putin-Propaganda ebenso wie die in den Sozialen Medien. Selbstverständlich kann ein Wunder geschehen: Selbst ein Michail Gorbatschow war zu Beginn seiner Präsidentschaft ein glühender Kommunist, der noch nicht ansatzweise an die Öffnungsschritte dachte, die er später durchsetzte. Doch sein Ideengeber war der allen totalitären Regimen misstrauende Außenminister Eduard Schewardnadse. Im System Putin sind solche Personen tot, des Landes verwiesen oder im Gefängnis. Putin hat den für alle Machthaber verheerendsten Weg eingeschlagen: Seine Berater sind Ja-Sager. Es steht zu befürchten, dass die Welt noch einige Zeit mit Putin und noch längere Zeit mit dem Putinismus leben muss.

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Was nun, Herr Putin?

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24.03.2024

So absurd es ist: prinzipiell ja. Unwahrscheinlich ist die Höhe der Zustimmung, doch die Mehrheit der Russ:innen dürfte für Putin sein. Allerdings ist ihr Wille durch Jahrzehnte hindurch manipuliert. Putin hat die kritischen Medien in Russland weitestgehend ausgeschaltet. Politisch engagierte Gegner:innen seines Systems landen im Gefängnis oder kommen unter mehr oder minder ungeklärten Ursachen ums Leben, und ernstzunehmende Gegenkandidaten werden zur Wahl nicht zugelassen. Der Personenkult ist so stark wie seit der Zeit von Josef Stalin (Regierungschef von 1922-1953) nicht mehr. Putin hat sich gleichsam zum Selbstläufer gemacht.

Das Demonstrationsrecht ist stark eingeschränkt. Wer gegen Putin demonstriert, läuft Gefahr, dass ein Gericht einen Grund für eine Verurteilung findet und hohe Haftstrafen ausspricht. Russ:innen sind allerdings seit der repressiven Zeit des Kommunismus geschickt darin, ihren Unmut im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben selbst eines Unrechtsstaates auszudrücken. So hat Julija Nawalnaja, die Witwe des in einem Strafgefangenenlager gestorbenen, vermutlich ermordeten, Oppositionellen Alexei Anatoljewitsch Nawalny, auf Basis einer Idee ihres Mannes die Aktion „Mittag gegen Putin“ ausgerufen: Wer gegen Putin ist, solle am Sonntag um zwölf Uhr zur Wahl kommen. Die Menschenschlangen vor den Wahllokalen wären dann gleichsam Symbole für die gegen Putin gerichteten Demonstrationszüge, die zweifellos nicht zugelassen oder gewaltsam aufgelöst worden wären. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft mit Strafverfahren wegen Behinderung der Wahl gedroht. Dennoch bildeten sich in russischen Städten, vor allem aber vor den russischen Botschaften, in denen Auslandsruss:innen wählen konnten, am Sonntag zu Mittag lange Schlangen.

Wie alle Staatsoberhäupter, egal, ob demokratisch oder undemokratisch an der Macht, beschwor Putin nach der Wahl die Einheit der Nation. Inwiefern man Putin Bezeugungen von Kulanz glauben kann, ist allerdings die große Frage. Beispielsweise wäre er laut einer Aussage auf einer Nachwahl-Pressekonferenz bereit gewesen, Nawalny im Austausch gegen eine im Ausland inhaftierte Person aus Putins Kreis freizulassen und ihn dann aus Russland ohne Rückkehrungsrecht auszuweisen. Nur sei Nawalnys Tod dazwischengekommen. Ebenso hat Putin Sympathien für den Plan des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erkennen lassen, für die Dauer der Olympischen Spiele (26. Juli bis 11. August) einen Waffenstillstand in der Ukraine einzuhalten.

Der ukrainische Karren ist extrem verfahren. Vor den Wahlen hat Putin in einem Interview gesagt, er sei zu Verhandlungen bereit, diese müssten aber auf der Basis der derzeitigen militärischen Realität stattfinden. Das heißt, dass Putin zu Verhandlungen nur dann bereit ist, wenn die Ukraine von vornherein zustimmt, die derzeit von Russland besetzten Gebiete an Russland abzutreten. Tatsache ist, dass Putin immer wieder die Notwendigkeit eines russischen Erfolgs in der Ukraine beschwört. Damit manövriert er sich in........

© Wiener Zeitung


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