Studierende und Forschende sind entführt oder tot. Die geistige Elite kämpft im Krieg. Die Gänge der Universitäten sind leer, die Labors stehen still. Vor dieser Zukunft warnen Israels zentrale Wissenschaftsinstitutionen in einem Offenen Brief an die internationale Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Israels schwerste Krise“. Sie befürchten, die besten Köpfe des Landes an ein grausames, monatelanges Gemetzel zu verlieren.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten hätten gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Zivilgesellschaft, sondern auch auf die Wissenschaft, heißt es in dem Schreiben. „Die Situation wirkt sich auf unsere Akademiker aus. Mehrere Dutzend israelische Studenten und Forscher wurden getötet oder entführt, zahlreiche andere in den Militär-Reservistendienst einberufen. Dazu überlagern unmittelbare Überlebensängste das Streben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen auch bei denjenigen, die nicht direkt betroffen sind“, schreiben David Harel, Präsident der israelischen Akademie der Wissenschaften, Yoseph Mekori, Vorsitzender des Planungsausschusses des israelischen Hochschulrates, und Daniel Zajfman, Vorsitzender des israelischen Wissenschaftsfonds. Der wissenschaftliche Nachwuchs fehle in den Labors schon jetzt.

Auf die Anfrage, wie viele Forschende derzeit im Militär dienen müssten, erhielt die WZ von der Akademie in Jerusalem keine Antwort. Offiziellen Zahlen zufolge hat Israels Armee bisher rund 360.000 Männer und Frauen eingezogen - eine gewaltige Zahl für ein Land mit 9,36 Millionen Einwohnern (Österreich: 8,95 Millionen).

Israel ist mit seinen 22.072 Quadratkilometern nur so groß wie Niederösterreich und das Burgenland. In Wissenschaft, Forschung und Entwicklung ist es jedoch eine Supermacht. Seine Ausgaben für diesen Sektor liegen mit 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusammen mit Südkorea an der Weltspitze (Österreich: 3,2 Prozent). Neben dem kalifornischen Silicon Valley gilt das Land am Jordan als Innovationshochburg schlechthin. Insbesondere bei Hightech-Startups, in Naturwissenschaften und Medizin nimmt es eine Top-Position ein. Zu den führenden Forschungsstätten zählen das Technion in Haifa – die Technische Universität Israels mit 18 Fakultäten – und das Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rehovot, wo 2.500 Menschen Grundlagenforschung betreiben.

Im Global Innovation Index, der Länder nach ihrer Innovationskraft beurteilt, erreichte Israel im Jahr 2022 Platz 14 von 132 untersuchten Staaten. Angesichts seiner Bedeutung für das EU-Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe droht der Krieg Dutzende von Projekten zu verzögern. Israel ist an mehr als 5 Prozent aller Horizon-Projekte beteiligt und hat bisher mehr als 500 Millionen Euro aus dem Programm erhalten.

In Friedenszeiten kommen Studierende aus aller Welt nach Israel. Viele haben die dortigen Top-Unis jedoch mittlerweile verlassen. Die meisten der 242 internationalen Post-Doktorand:innen, die etwa an der Ben-Gurion Universität im Negev tätig waren, seien nach Hause zurückgekehrt, sagte Universitätspräsident Daniel Chamovitz kürzlich im Fachmagazin ,,Science”. Die Hochschule liegt, 41 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, in Raketen-Reichweite. Mindestens 50 Ben-Gurion-Mitarbeiter und Studierende seien bei den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober oder an deren Folgen ums Leben gekommen.

Hohe Verluste beklagt auch die akademische Welt auf der anderen Seite der kriegerischen Auseinandersetzungen in Palästina. “Priorität hat derzeit nicht die Wissenschaft, sondern das Überleben”, betont der Präsident der Palästinensischen Akademie der Wissenschaften im Westjordanland, Marwan Awartani, in einem Statement. Die wissenschaftliche Infrastruktur im Gazastreifen läge in Ruinen. Sowohl die Islamische Universität als auch die Al-Azhar-Universität seien von israelischen Raketen getroffen worden, zahlreiche Studierende und Uni-Mitarbeiter:innen bei den Anschlägen umgekommen. ,,Die langfristigen Auswirkungen dieses Krieges auf das Bildungssystem sind noch nicht absehbar. Es wird Jahre und vielleicht sogar Generationen dauern, bis diese Wunden heilen”, schreibt Awartani.

Wissenschaft denkt und arbeitet üblicherweise jenseits von Ländergrenzen und politischen Interessen. Großprojekte wären ohne internationale Zusammenarbeit völlig undenkbar. Diese Eigenschaft befördert im Weiteren eine friedliche Zusammenarbeit zwischen Ländern auf der ganzen Welt. Etwa gründeten im Jahr 1954 elf europäische Regierungen das Kernforschungszentrum Cern in Genf auch mit dem Ziel, nach den Zerwürfnissen des Zweiten Weltkriegs die Welt wieder zu einen. Oder es wurde das Internationale Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg nahe Wien, das heute bei den Berichten des Weltklimarats mitwirkt, 1974 explizit zur Friedensförderung zwischen den Fronten des Kalten Kriegs gegründet. Auch die die bisher größte und langlebigste Raumstation der Menschheit, die Internationale Raumstation ISS, wird seit Beginn ihres Aufbaus 1998 als Kooperation von 16 Staaten, beziehungsweise fünf Raumfahrtagenturen, betrieben und weiterentwickelt. Die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos schickt auf Beschluss der Mitglieder trotz des Ukraine-Kriegs weiterhin Kosmonauten zum größten menschengemachten Objekt im All, obwohl die internationale Gemeinschaft andere wissenschaftliche Kooperationen mit Russland eingefroren hat.

Wenn offizielle Kommunikationskanäle eingeschränkt sind, kann Wissenschaft helfen, Vertrauen wiederherzustellen und Glaubwürdigkeit aufzubauen: An dieser Schnittstelle kommt Wissenschaftsdiplomatie ins Spiel. Ihr Ziel ist, durch Forschungskooperationen Brücken zwischen Gesellschaften zu bauen, internationale Verbindungen zu erhalten oder zu stärken und Wissenschaftler:innen in Gefahrensituationen zu schützen. „Wissenschaft kann ein einflussreiches Instrument sein, um gemeinsame Strategien zur Überwindung globaler Herausforderungen zu entwickeln“, heißt es dazu auf der Homepage der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Forschungskontakte öffnen Türen.

Im Nahost-Konflikt hat sich die politisch neutrale Haltung der Forschung ein Stück weit verschoben. Jede Seite bezieht ihre Position. Etwa ruft das Weizmann Institut für Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, eines der führenden seiner Art, die Forschungscommunity zur Unterstützung der israelischen Bevölkerung gegen „djihadistische Mörder“ auf und mahnt eine „kollektive Verantwortung“ der weltweiten Forschungsgemeinschaft ein. „So, wie wir Wahrheit und Verständnis in der Wissenschaft suchen, müssen wir Wahrheit und Verständnis in der Welt suchen”, schreibt das Weizmann-Präsidium um Alon Chen in einem Statement. Eine Interviewanfrage der WZ zur friedensfördernden Rolle der Forschung blieb vonseiten des Institutspräsidenten unbeantwortet.

Auch die Palästinensische Akademie der Wissenschaften nimmt eine klare Haltung ein. Sie ruft die internationale Forschungscommunity dazu auf, israelische Institutionen zu boykottieren, und appelliert an deren ,,intellektuelle und moralische Pflicht”, bestmöglich ,,die israelische Aggression” zu stoppen.

Einen versönlicheren Ton schlagen Harel, Mekori und Zajfman an. „Lassen Sie uns nicht nur Zuschauer sein”, schreiben sie in dem oben genannten Statement. Israel müsse mit Entschlossenheit kämpfen, um in Frieden und Sicherheit zu existieren, jedoch unter größtmöglicher Schonung unschuldiger Menschen: “Setzen wir uns ein für Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden ein und aktiv für eine tiefe Achtung der Würde des menschlichen Lebens - allen menschlichen Lebens.”

QOSHE - Israels Krieg mit der Hamas erreicht auch die Wissenschaft  - Eva Stanzl
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Israels Krieg mit der Hamas erreicht auch die Wissenschaft 

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15.11.2023

Studierende und Forschende sind entführt oder tot. Die geistige Elite kämpft im Krieg. Die Gänge der Universitäten sind leer, die Labors stehen still. Vor dieser Zukunft warnen Israels zentrale Wissenschaftsinstitutionen in einem Offenen Brief an die internationale Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Israels schwerste Krise“. Sie befürchten, die besten Köpfe des Landes an ein grausames, monatelanges Gemetzel zu verlieren.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten hätten gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Zivilgesellschaft, sondern auch auf die Wissenschaft, heißt es in dem Schreiben. „Die Situation wirkt sich auf unsere Akademiker aus. Mehrere Dutzend israelische Studenten und Forscher wurden getötet oder entführt, zahlreiche andere in den Militär-Reservistendienst einberufen. Dazu überlagern unmittelbare Überlebensängste das Streben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen auch bei denjenigen, die nicht direkt betroffen sind“, schreiben David Harel, Präsident der israelischen Akademie der Wissenschaften, Yoseph Mekori, Vorsitzender des Planungsausschusses des israelischen Hochschulrates, und Daniel Zajfman, Vorsitzender des israelischen Wissenschaftsfonds. Der wissenschaftliche Nachwuchs fehle in den Labors schon jetzt.

Auf die Anfrage, wie viele Forschende derzeit im Militär dienen müssten, erhielt die WZ von der Akademie in Jerusalem keine Antwort. Offiziellen Zahlen zufolge hat Israels Armee bisher rund 360.000 Männer und Frauen eingezogen - eine gewaltige Zahl für ein Land mit 9,36 Millionen Einwohnern (Österreich: 8,95 Millionen).

Israel ist mit seinen 22.072 Quadratkilometern nur so groß wie Niederösterreich und das Burgenland. In Wissenschaft, Forschung und Entwicklung ist es jedoch eine Supermacht. Seine Ausgaben für diesen Sektor liegen mit 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusammen mit Südkorea an der Weltspitze (Österreich: 3,2........

© Wiener Zeitung


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