Ein Viertel der Menschen leidet laut Expert:innen im Lauf des Lebens an einer psychischen Erkrankung, laut Medienberichten werden es immer mehr. Stimmt das und wenn ja, warum?

Die Frage ist so nicht zu beantworten, weil sich die diagnostischen Zugangswege und die Möglichkeiten für epidemiologische Studien dramatisch verändert haben. Wir wissen nicht, wie hoch die Zahl der psychisch Erkrankten vor 50 oder 100 Jahren tatsächlich war, weil man damals die Instrumente nicht hatte, um das zu erfassen. Erst seit wenigen Jahrzehnten werden für Studien zu diesem Thema 30.000 bis 50.000 Menschen befragt. Insofern ist die Zahl von 25 bis 30 Prozent nur, was wir heute wissen.

Waren früher genauso viele Menschen psychisch krank wie heute?

Meine persönliche Meinung ist, dass die Menschheit immer gleich krank war, aber sich die Erscheinungsbilder gewandelt haben. Hysterie galt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als weitverbreitete Erkrankung in unserem Kulturkreis. Heute ist sie das längst nicht mehr, dafür gibt es viel mehr Essstörungen.

Gibt es spezifischere Vergleiche?

Man kann von Kultur zu Kultur oder von Land zu Land in Abständen von zehn oder zwanzig Jahren vergleichen und erkennen, wie sich die Verhältnisse verschieben. Etwa gab es in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verschwindend wenig Essstörungen. Anorexie und Bulimie haben aber nach der Öffnung innerhalb von zehn oder fünfzehn Jahren dramatisch auf den Stand von Westdeutschland aufgeholt.

Essstörungen sind also kulturell bedingt?

In einem Land, in dem nicht eben der kulinarische Überfluss herrscht, wird eine Essstörung sozial anders gesehen als in einer Wohlstandsgesellschaft wie Europa oder den USA. Im Mangel kommt kaum jemand auf die Idee, die Nahrungsaufnahme einzustellen.

Nehmen wir psychische Erkrankungen heute anders wahr als früher?

Es ist in westlichen Kulturen heute leichter möglich, sich zu psychischen Erkrankungen zu bekennen, weil die Stigmatisierung nachlässt. Promis sprechen in Medien über ihre Depression. Das hätte es vor 30 Jahren so nicht gegeben. Ausgrenzung, Vorurteile, Ablehnung und Diskriminierung sind weniger geworden.

Welche sind heute die häufigsten psychischen Erkrankungen?

Die Depression kommt mit Abstand am häufigsten vor. Etwa elf Prozent der Bevölkerung werden einmal im Leben klinisch depressiv. Dann gibt es viele Angststörungen, Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen. Zu wenig wissen wir aber nach wie vor über die Persönlichkeitsstörungen, bei denen Menschen im Erleben und Verhalten von der kulturellen Norm abweichen. Dazu zählen Narzissmus, Borderlinesyndrom oder histrionische Störungen.

Gibt es Mode-Diagnosen?

Natürlich gibt es auch Mode-Diagnosen. Manche Personen sagen zum Beispiel einfach von sich selbst, dass sie ADHS haben, daher für ihre Zustände nicht verantwortlich seien. Auf Social Media schreiben junge Menschen „ich habe ADHS“, oder „ich habe Borderline“, „daher kann ich nichts dafür“, daher muss ich mich weder schämen noch mich anstrengen, etwas zu ändern, sondern es ist die Welt schuld und die muss mich nehmen, wie ich bin.

Wie gehen Sie vor, wenn jemand zu Ihnen kommt?

Als Psychoanalytiker und Psychiater höre ich erst einmal zu und frage nach den Beschwerden und was er oder sie möchte, dass sich ändert. Danach läuft es auf eine Art Mustererkennung hinaus. Ich kenne Krankheitsbilder und Kombinationen von Symptomen, Erfahrungen oder Verhaltensweisen, die mich dann zu einem Verdacht oder einer Diagnose bringen. Je näher all dies am Prototyp in unseren Klassifikationsschemata liegt, umso leichter ist die Diagnose. Wir müssen gemäß den Klassifikationsschemata, sie heißen ICD oder ICD-C, ICD-11, DSM-5, mit der Krankenkasse abrechnen. Der Hauptkritikpunkt aus psychoanalytischer Sicht wäre, dass man damit nur die Symptome erkennen kann, aber keine Gründe. Bei Fragen wie „Was hat der Mensch in der Kindheit erlebt?“, „Was war der Auslöser?“, „Wie verhält sich die Person jetzt?“, und „Was verstehe ich über die Hintergründe dieser Erkrankung?“ helfen die phänomenologisch-deskriptiven Schemata nicht. Mit ihnen können wir nur die Spitze des Eisbergs benennen.

Warum werden elf Prozent der Menschen im Lauf des Lebens klinisch depressiv?

Die Gründe sind nicht leicht medizinisch-empirisch nachzuweisen. Man kann aber davon ausgehen, dass es eine Vereinsamung gibt, mehr Menschen sich scheiden lassen, Gefüge sich leichter auflösen, auch weil die Mobilität höher ist als früher. Mehrgenerationen-Haushalte fallen weg und auch das befördert Depression. Allerdings wissen wir nicht, wie viele Menschen in der früheren Großfamilie depressiv waren, weil sie zu fünft in einem Zimmer lebten und dem Mangel an Intimsphäre. Jede Zeit hat ihre Erscheinungsformen. Ich glaube nicht, dass die Erkrankungen häufiger vorkommen, aber sehr wohl, dass die Ursachen sich kulturspezifisch ändern. Die Kultur ist immer ein Teil der Ursache jeglicher Erkrankung.

Wie viele Menschen sind spieleabhängig?

Suchterkrankungen sind abhängig von der Verfügbarkeit des Suchtmittels. In den 1980er-Jahren gab es noch keine Internetsucht und in Zeiten der Prohibition weniger Alkoholabhängige als heute. Unsere Zeit ist sicher eine von Internetspiel- und Pornosucht.

Was sind heute die häufigsten psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen?

Quer durch alle Altersschichten sind affektive Störungen, also Depressionen, am häufigsten. Bei Kindern und Jugendlichen manifestieren sie sich anders als bei Erwachsenen, nämlich körperlicher oder durch Reizbarkeit. Dann gibt es bei Mädchen, insbesondere in der Adoleszenz, Essstörungen. ADHS, Autismus und Borderline-Syndrom mit Selbstverletzungen sind schwieriger dem Alter zuzuordnen, weil sie zumeist im Kinder- und Jugendalter diagnostiziert werden, aber später nicht plötzlich verschwinden.

Ist das, wie es scheint, immer häufiger verbreitete Burnout eine eigene Diagnose?

In unserem Klassifikationsschema ist es keine eigene Diagnose, weil es sich in der Regel um eine Depression handelt. Aber Burnout ist weniger stigmatisiert als die Depression, weil es nur bedeutet, dass ich zu viel gearbeitet habe. Und wenn ich zu viel gearbeitet habe, bin ich ein toller Mensch, der immerhin eine tolle Arbeit hat und sich dafür engagiert. Burnout ist somit eine Umschreibung, die auf Arbeitsbelastung zurückgeführt wird. Wobei mich als Psychoanalytiker interessieren würde, warum jemand so viel arbeitet. Denn in den meisten Fällen könnten wir weniger arbeiten, aber was uns antreibt, mehr zu arbeiten als wir müssen, ist interessant.

Zurück zum Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud: Welches Krankheitsbild beschrieb das Wort Hysterie? Oder war es nur ein Sammelbegriff für verschiedene Symptome?

Damals glaubte man schon, dass es ein Krankheitsbild sei. Wir verwenden den Begriff heute noch, aber mehr als Konstellation, die wir als histrionische Persönlichkeitsstörung bezeichnen. Der Begriff Hysterie wurde verbannt, weil er frauenfeindlich ist. Bei den alten Griechen sagte man nämlich, dass hysteros, also die Gebärmutter, im Leib der Frau herumwandert und sie narrisch macht. Daher sagt man heute histrionisch, was aber auch ein bisschen despektierlich ist, zumal die Histrionen im alten Griechenland Schauspieler waren.

Und worin besteht diese „histrionische Konstellation“?

Sie bezeichnet eine bestimmte Entwicklung, die nicht optimal verläuft, wenn im Dreieck mit Vater und Mutter bestimmte Erfahrungen gemacht wurden. Freud nannte das Ödipus-Komplex, der ein Leben lang zu inneren Wiederherstellungen dieser frühen Erfahrungen führt, wenn er nicht überwunden wird. Sehr dramatische Erscheinungsformen mit körperlichen Symptomen hat Freud aber weitaus häufiger gesehen als wir das heute tun. Die Damen, die er behandelte, fielen ja sehr oft in Ohnmacht. In alten Filmen steht dann immer ein Galan in der Nähe, der sie auffängt. In Ohnmacht zu fallen war für junge Frauen damals eine Chance, Kontakt zu einem jungen Mann zu suchen, weil ihr ja das meiste andere verboten war, solange sie nicht verheiratet war. Heute würden junge Frauen wohl gnadenlos aufs Pflaster aufschlagen, weil die Männer nicht wüssten, was sie zu tun haben. Damals aber war das eine kulturspezifische Form der Annäherung, die gestattet war. Heute gibt es da ganz andere Möglichkeiten, in Kontakt zu kommen, auch durch Essstörungen oder Selbstverletzungen.

Wie bitte?

Das ist in der Regel unbewusst. Symptome psychischer Erkrankungen werden nicht mit Absicht vorgetäuscht. Nur ein kleiner Teil agiert in dieser Hinsicht delinquent und moralisch fragwürdig, etwa wenn jemand in Frühpension will und dafür etwas vorspielt. Aber sonst entstehen Symptome auf unbewusstem Weg und man kann sie niemandem vorwerfen. Jedes Symptom hat auch eine kommunikative Funktion, etwa indem jemand seinen Beziehungspartnern signalisiert, was mit einem los ist, und das erzeugt die eine oder andere Reaktion, und das ist ein Stück weit motiviert aus dem Wunsch, eine bestimmte Reaktion zu bekommen.

QOSHE - Von der Hysterie zum Burnout - Eva Stanzl
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Von der Hysterie zum Burnout

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31.01.2024

Ein Viertel der Menschen leidet laut Expert:innen im Lauf des Lebens an einer psychischen Erkrankung, laut Medienberichten werden es immer mehr. Stimmt das und wenn ja, warum?

Die Frage ist so nicht zu beantworten, weil sich die diagnostischen Zugangswege und die Möglichkeiten für epidemiologische Studien dramatisch verändert haben. Wir wissen nicht, wie hoch die Zahl der psychisch Erkrankten vor 50 oder 100 Jahren tatsächlich war, weil man damals die Instrumente nicht hatte, um das zu erfassen. Erst seit wenigen Jahrzehnten werden für Studien zu diesem Thema 30.000 bis 50.000 Menschen befragt. Insofern ist die Zahl von 25 bis 30 Prozent nur, was wir heute wissen.

Waren früher genauso viele Menschen psychisch krank wie heute?

Meine persönliche Meinung ist, dass die Menschheit immer gleich krank war, aber sich die Erscheinungsbilder gewandelt haben. Hysterie galt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als weitverbreitete Erkrankung in unserem Kulturkreis. Heute ist sie das längst nicht mehr, dafür gibt es viel mehr Essstörungen.

Gibt es spezifischere Vergleiche?

Man kann von Kultur zu Kultur oder von Land zu Land in Abständen von zehn oder zwanzig Jahren vergleichen und erkennen, wie sich die Verhältnisse verschieben. Etwa gab es in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verschwindend wenig Essstörungen. Anorexie und Bulimie haben aber nach der Öffnung innerhalb von zehn oder fünfzehn Jahren dramatisch auf den Stand von Westdeutschland aufgeholt.

Essstörungen sind also kulturell bedingt?

In einem Land, in dem nicht eben der kulinarische Überfluss herrscht, wird eine Essstörung sozial anders gesehen als in einer Wohlstandsgesellschaft wie Europa oder den USA. Im Mangel kommt kaum jemand auf die Idee, die Nahrungsaufnahme einzustellen.

Nehmen wir psychische Erkrankungen heute anders wahr als früher?

Es ist in westlichen Kulturen heute leichter möglich, sich zu psychischen Erkrankungen zu bekennen, weil die Stigmatisierung nachlässt. Promis sprechen in Medien über ihre Depression. Das hätte es vor 30 Jahren so nicht gegeben. Ausgrenzung, Vorurteile, Ablehnung und Diskriminierung sind weniger geworden.

Welche sind heute die häufigsten psychischen Erkrankungen?

Die Depression........

© Wiener Zeitung


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