In der Kirche feiern die Menschen dicht gedrängt Gottesdienst, als draußen plötzlich mehrere Jeeps heranbrausen. Auf den Ladeflächen Überfallkommandos mit Maschinengewehren und Handgranaten. Die schwerbewaffneten Männer stürmen das Gebäude und eröffnen das Feuer auf die Betenden. Männer, Frauen, darunter Schwangere, Kinder – niemand wird verschont; wer nicht rechtzeitig in Deckung gehen kann, stirbt im Kugelhagel oder wird schwer verletzt. Die Attentäter schlagen auch den Kirchenraum kurz und klein. Es sind Bilder wie aus einem brutalen Actionkracher, aber für die christliche Bevölkerung im westafrikanischen Nigeria sind sie grausame Realität: „Niemand wurde entführt, kein Priester, niemand von der Kirchenleitung wurde gekidnappt. Sie kamen nur, um zu töten“, berichtet später ein Überlebender.

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Der Angriff auf die Sankt-Franziskus-Kirche in der Stadt Owo im Südwesten Nigerias mit 22 Toten und rund 50 Verletzten zu Pfingsten 2022 schaffte es in die internationalen Schlagzeilen, ebenso die Entführung von 276 Schülerinnen vor genau zehn Jahren – mehr als die Hälfte von ihnen ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Erst Anfang März 2024 sollen Medienberichten zufolge insgesamt mehr als 500 Menschen verschleppt worden sein, darunter erneut zahlreiche Schülerinnen und junge Frauen. Neben Anschlägen und gezielten Morden an einzelnen Personen sind diese Massenentführungen ein häufig eingesetztes Terrorinstrument der islamistischen Sekte Boko Haram, die in Nigeria seit 2009 Angst und Schrecken verbreitet.

In ihrer Grausamkeit sind die Islamisten höchst effektiv, sagt der nigerianische Priester Thomas Adamu im Gespräch mit der WZ. „Ihre Stärke besteht in ihrer Strategie, dass sie als schwerbewaffnete Armee auftauchen. Dagegen sind wir praktisch machtlos.“ Für die Christ:innen in Afrikas bevölkerungsreichstem Staat, der etwa so viele Einwohner hat wie die halbe EU, bedeutet das ein Leben in ständiger Gefahr. Und das, obwohl sie derzeit fast die Hälfte der Bevölkerung stellen: 96 Millionen Christ:innen stehen 104 Millionen Muslim:innen gegenüber.

„Die Sonntagsmessen können wir mittlerweile wieder halbwegs normal feiern“, erzählt Reverend Adamu, „aber große kirchliche Feste sind besonders gefährdet.“ Man versucht sich deshalb zu schützen, so gut es geht. An den Kircheneingängen finden Sicherheitskontrollen statt; selbst die Osternacht am Karsamstag endet noch bei Tageslicht, damit die Messbesucher:innen im Hellen nach Hause kommen; und vor der Kirche patrouillieren aufmerksame Jugendliche oder sogar bewaffnete Sicherheitskräfte. „Aber was können ein paar Polizisten ausrichten, wenn zwanzig oder dreißig schwerbewaffnete Leute auftauchen?“

Besonders groß ist die Gefahr für all jene, die vom Islam zum Christentum konvertieren – und damit aus Sicht der Islamisten vom Glauben abgefallen sind. Aber auch viele andere geraten ins Visier der Terroristen. Dabei gehe es offensichtlich nicht nur um die Religion, ist der Priester überzeugt, „denn muslimische Schülerinnen werden ebenfalls entführt. Die wilden Horden greifen nicht nur christliche Kirchen an. Man könnte meinen, es macht ihnen einfach Spaß, unschuldige Menschen umzubringen.“ Boko Haram (was frei übersetzt „Bücher sind Sünde“ oder auch „Verwestlichung ist ein Sakrileg“ bedeutet) ist die größte und bekannteste Islamistengruppe in Nigeria, aber längst nicht die einzige. Auch der IS und Al-Kaida haben längst Ableger in Nigeria. Sie alle eint ein Ziel: Sie wollen die islamische Scharia durchsetzen und alles, was die Scharia verbietet – was also haram ist –, vernichten. „Sie bekämpfen alles Westliche und alles Weltliche“, erklärt Adamu, „das Schulsystem, die Demokratie, das Justizsystem, die Polizei, Wahlen.“

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Von der Regierung sei nicht viel Hilfe zu erwartet, stellt Adamu fest: „Man hat das Gefühl, dass die allgemeine Unruhe im Land von der Politik mitverursacht wird. Was sie zur Verbesserung der Situation tut, ist nicht wirklich zu erkennen. Es ist seit 2009 immer schlimmer geworden.“ Die Bilanz der vergangenen 15 Jahre: geschätzte 35.000 Ermordete, rund zwei Millionen Binnenvertriebene und mindestens sechs Milliarden US-Dollar an Schäden. Allein im besonders betroffenen Bundesstaat Borno war laut einem Bericht der BBC im Jahr 2016 jedes dritte der damals 3,2 Millionen Privathäuser zerstört, dazu mehr als 5.000 Bildungsstätten, mehr als 1.600 Brunnen, 1.200 Verwaltungsgebäude, 750 Einrichtungen der Strominfrastruktur, 200 Gesundheitseinrichtungen, 170 Polizeistationen und 14 Gefängnisse.

Dabei gab es in Nigeria einmal eine Zeit, in der die Religionen friedlich koexistiert haben, erinnert er sich. Der fast 60-Jährige wuchs in einem Land auf, in dem zwar Korruption allgegenwärtig war, es immer wieder politische Umstürze und Diktaturen gab und das Militärregime in den 1990er-Jahren als eines der repressivsten Systeme Afrikas galt, „aber bis in die 2000er-Jahre haben wir unser Leben ganz normal leben können.“ Der Terror von Boko Haram war für ihn der Auslöser, das Land zu verlassen. Aber nicht, um sich in Sicherheit zu bringen, sondern um seinen Beitrag zu leisten, den Menschen in Nigeria zu helfen.

Er ging nach Österreich, wo er eine Ausbildung zum Psychotherapeuten absolvierte. Seit drei Monaten ist er zurück in Nigeria und baut eine psychotherapeutische Betreuung für traumatisierte Kinder auf. „Viele haben ihre Eltern verloren oder Entführungen überlebt. Ich weiß, wie groß die Not hier ist. Im gesamten Norden Nigerias kenne ich außer mir keinen anderen Psychotherapeuten.“

Sein Wissen gibt er auch an die Priester weiter, die den Opfern des islamistischen Terrors beistehen – und die selbst in dessen Visier geraten. Denn Geistliche werden in Nigeria besonders oft eingeschüchtert, verschleppt oder ermordet. Auch Adamu hat schon Freunde verloren. „Aber wir müssen uns der Situation stellen, wir können die Menschen nicht im Stich lassen.“ Manche Dörfer werden jedoch nicht mehr besucht, weil die Gefahr dort zu groß ist. Der Priester hat die Erfahrung gemacht, dass „in solchen Situationen die Leute gläubiger werden. Man spürt die eigene Hilflosigkeit und die Ohnmacht der Regierung und sucht Zuflucht bei Gott. Er ist unsere Hoffnung auf Rettung.“

QOSHE - Nigerias verfolgte Christ:innen - Mathias Ziegler
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Nigerias verfolgte Christ:innen

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03.04.2024

In der Kirche feiern die Menschen dicht gedrängt Gottesdienst, als draußen plötzlich mehrere Jeeps heranbrausen. Auf den Ladeflächen Überfallkommandos mit Maschinengewehren und Handgranaten. Die schwerbewaffneten Männer stürmen das Gebäude und eröffnen das Feuer auf die Betenden. Männer, Frauen, darunter Schwangere, Kinder – niemand wird verschont; wer nicht rechtzeitig in Deckung gehen kann, stirbt im Kugelhagel oder wird schwer verletzt. Die Attentäter schlagen auch den Kirchenraum kurz und klein. Es sind Bilder wie aus einem brutalen Actionkracher, aber für die christliche Bevölkerung im westafrikanischen Nigeria sind sie grausame Realität: „Niemand wurde entführt, kein Priester, niemand von der Kirchenleitung wurde gekidnappt. Sie kamen nur, um zu töten“, berichtet später ein Überlebender.

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Der Angriff auf die Sankt-Franziskus-Kirche in der Stadt Owo im Südwesten Nigerias mit 22 Toten und rund 50 Verletzten zu Pfingsten 2022 schaffte es in die internationalen Schlagzeilen, ebenso die Entführung von 276 Schülerinnen vor genau zehn Jahren – mehr als die Hälfte von ihnen ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Erst Anfang März 2024 sollen Medienberichten zufolge insgesamt mehr als 500 Menschen verschleppt worden sein, darunter erneut zahlreiche Schülerinnen und junge Frauen. Neben Anschlägen und gezielten Morden an einzelnen Personen sind diese Massenentführungen ein häufig eingesetztes Terrorinstrument der islamistischen Sekte Boko Haram, die in Nigeria........

© Wiener Zeitung


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