Es hat etwas Unheimliches, sich von Fred Chin auf dem Gelände des ehemaligen Jing-Mei-Gefängnisses herumführen zu lassen. Jenem Ort, an dem er vor 53 Jahren eingesperrt war. An dem er gefoltert wurde. Wo ihn seine Folterknechte so lang verprügelten, bis er Blut erbrach – und sie ihn zwangen, das Blut vom Boden zu lecken. Wo sie ihn kopfüber hingen, Salzwasser in den Mund gossen, bis er gestand, ein Terrorist zu sein. Dem Ort, an dem er versuchte, sich das Leben zu nehmen. „Das ist ein trauriger Ort, aber er kann mir nichts mehr anhaben“, sagt der 76-Jährige nüchtern. Er geht zügig über das Areal und spricht schnell. Er hat keine Hemmungen zu erzählen, das Trauma zu rekapitulieren. Nicht mehr.

Dieser Ort, im Süden Taipehs, gehört zu Taiwans dunklem Vermächtnis. Es passt nicht ganz zum Image der progressiven Pazifikinsel. Eine Musterdemokratie, ein Chipgigant, ein sicherer Hafen für verfolgte Hongkonger:innen, Uigur:innen und Tibeter:innen. Kurz: eine Vorzeigenation und das eindeutige Gegenbeispiel zum großen Nachbarn China, das in Taiwan eine abtrünnige Provinz sieht, die es lieber früher als später der kommunistischen Volksrepublik einverleiben möchte. Doch auch in Taiwan herrschte fast 40 Jahre lang ein diktatorisches System. Nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg 1949 flohen Chinas ehemaliger Präsident Chiang Kai-shek und knapp zwei Millionen Festlandchines:innen nach Taiwan. Von hier aus wollte Chiang mit seiner Nationalpartei, der Kuomintang, die siegreiche Rückkehr auf das Festland planen – und etablierte in der Zwischenzeit in Taiwan eine Einparteienherrschaft, in der Andersdenkende verfolgt, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden. Es war die Zeit des „Weißen Terrors“.

Fred Chin ist einer seiner Überlebenden. Mit 18 Jahren kam er aus Malaysia nach Taiwan. In der Stadt Tainan, im Süden der Insel, studierte er Chemieingenieurwesen. 1971 wurde er von der Geheimpolizei festgenommen, bezichtigt, in einen Anschlag involviert gewesen zu sein. „Genau hier haben sie mich verurteilt“, sagt er. Er steht im alten Militärgerichtssaal des Jing-Mei-Gefängnisses. Hier beginnt er für gewöhnlich seine Tour für alle Interessierten. Erzählt, wie er dem Richter damals entgegenwarf, dass er ihn doch zum Tod verurteilen solle, weil er nicht bereit sei, für ein Verbrechen hinter Gitter zu gehen, dass er nicht begangen hat. „Was wäre ich nach zwölf Jahren Haft? Wäre ich noch ich? Wäre ich noch normal? Dann besser gleich tot“, erzählt er. Es klingt so, als wären nicht 53 Jahre vergangen, sondern als würde er in dem Moment wieder zu dem 21-jährigen Studenten werden, der er einmal war.

Er führt seinen Besuch weiter zu den Zellen, bis er vor einer stehenbleibt. 15 Quadratmeter ist sie groß. Er stellt sich in die rechte Ecke ganz hinten in den Raum. Hier hat er zusammengekauert gesessen und geschlafen. Die Zelle hat er sich mit drei anderen Männern geteilt. Gesprochen hat er nicht mit ihnen. Eineinhalb Jahre lang. Er wollte nicht mit ihnen, „den Politischen“, in Verbindung gebracht werden. Er war ja kein Dissident, kein politischer Gefangener, kein Rädelsführer, nur ein Auslandsstudent, den man für etwas beschuldigte, das er nicht getan hatte. So wie viele andere auch.

„Besser 1.000 Unschuldige ermorden, als einen Kommunisten entkommen zu lassen.“ Das ist ein berühmtes Zitat von Chiang Kai-shek. Im chinesischen Bürgerkrieg war er der Gegenspieler des Kommunisten Mao Zedong. Und Taiwan, „die Republik China“, wie die Insel heute noch offiziell heißt, sollte in jeder Hinsicht das Gegenbeispiel zu Maos kommunistischer Volksrepublik werden. Jahrzehnte später können Taiwaner:innen, selbst in der Diaspora, Chiangs grausames Zitat immer noch wiedergeben. „Er hätte die Taiwaner anders behandeln müssen, als er im chinesischen Bürgerkrieg verloren hatte“, meint Fred Chin, „er hätte ihre Unterstützung gewinnen müssen. Aber er wollte Menschen töten, um ein Gefühl der Angst und Repression zu verbreiten, sodass sie ihn und seiner Regierung nicht schaden.“

Mit dem Tod Chiang Kai-sheks 1975 übernahm sein Sohn Chiang Ching-kuo die Agenden. Ein Jahr vor seinem eigenen Tod 1987 beendete dieser das über 30 Jahre lang geltende Kriegsrecht auf Druck der Opposition. Zu diesem Zeitpunkt begann sich das Land langsam zu demokratisieren. 1996 fanden die ersten freien Wahlen in Taiwan statt. Schritt für Schritt hat man sich in den Folgejahren sachte der dunklen Vergangenheit gewidmet. Begonnen, sich für die Verbrechen des Weißen Terrors bei den Opfern zu entschuldigen, ihnen Entschädigungen zu zahlen, die ersten Gedenkstätten zu errichten. Und sich mit anderen Ländern wie Deutschland, Südafrika und Südkorea auszutauschen, um zu erfahren, wie sie das mit der „transitional justice“, der Übergangsgerechtigkeit von Diktatur zu Demokratie, hingekriegt haben. Doch für die Täter galt Generalamnesie. Keinem wurde der Prozess gemacht. Keinem einzigen. Und der größte von ihnen, Diktator Chiang Kai-shek, lächelt noch heute von Banknoten und Münzen. Zudem sitzt er als gigantische Bronzestatue verewigt in einer Gedenkhalle im Zentrum Taipehs. Lächelnd und großväterlich thront er in der Halle. Eine beliebte Touristenattraktion. Menschen aus aller Welt pilgern zur Riesenstatue, um zu sehen, wie taiwanische Soldaten zur vollen Stunde vor dem einstigen Vater der Nation exerzieren. Als wäre nichts dabei.

Ein schwieriges Erbe, das die taiwanische Gesellschaft bis heute spaltet. Der Umgang mit der Vergangenheit ist deswegen so brisant, weil er an Taiwans Existenzfrage rüttelt: dem Verhältnis zu China. Diktator Chiang träumte zeitlebens von einer Wiedervereinigung mit dem Festland. Jenem Land, das die einen als größte Bedrohung für Taiwan betrachten – und für das die anderen familiäre, ja gewissermaßen noch heimatliche Gefühle hegen. Chiangs Partei, die Kuomintang, die auch nach dem Ende der Diktatur in Regierungsverantwortung war – und heute eine von den zwei Hauptparteien in Taiwans politischem System darstellt –, ist einer Annäherung an China nicht abgeneigt. Die progressive Fortschrittspartei (DPP), die auch im Jänner mit William Lai die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, pocht hingegen auf mehr Autonomie. Ihre Politiker:innen haben in der Vergangenheit auch verstärkt versucht, Taiwans Geschichte aufzuarbeiten. Inklusive einer Diskussion über die Gedenkhalle von Chiang Kai-shek und der gigantischen Statue. Ohne Erfolg. 70 Prozent aller Taiwaner:innen wollen, dass die Statue bleibt, wo sie ist. Egal, wie sie zu China stehen.

In Taiwan ist mit Vergangenheitsbewältigung an der Wahlurne nicht zu gewinnen. Das wissen selbst die Progressivsten. Und lassen das Thema lieber ruhen, um nicht beschuldigt zu werden, mit dem Aufreißen alter Wunden politisches Kleingeld machen zu wollen. Doch wie lebt es sich in einer Gesellschaft, in der die Verantwortlichen einer Diktatur niemals zur Rechenschaft gezogen wurden? Wenn die Frage von Schuld nie geklärt wurde? Wie weitermachen in einem Land, in dem die politischen Nachkommen jener Partei immer noch prominent vertreten sind, die willkürlich inhaftieren, foltern und töten ließ?

Fred Chin ist daher vorsichtig bei seinen Touren. Zu oft wurde auch ihm und anderen Überlebenden des Regimes der Vorwurf gemacht, sich mit ihrem Wunsch nach Aufarbeitung parteipolitisch profilieren zu wollen. „Ich will niemanden kritisieren“, sagt er, „ich will sie nur wissen lassen, dass das die Fakten sind und dass damals das alles unter der totalitären Kontrolle eurer Regierung passiert ist. Übernehmt die Verantwortung dafür!“

Er steht vor den berühmten Steinwänden im Jing-Mei-Gefängnis, wo alle Namen der Inhaftierten, der lebenslang Verurteilten, der in Haft getöteten, der Hingerichteten auf schwarzen Steinen geschrieben stehen. Auch sein Name ist darunter. Eineinhalb Jahre war er im Jing-Mei-Gefängnis eingesperrt, danach noch acht Jahre auf der Gefängnisinsel „Green Island“, bis er 1983 freikam. Obdachlos war er die ersten Jahre, hatte keinen Personalausweis, konnte nicht zurück in seine Heimat Malaysia. Es dauerte, bis er Fuß fasste. Einmal begegnete er jenem Mann, der ihn gefoltert hatte. Er hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt: wie er ging, wie er roch, wie er sprach. Ein Monat ist ihm Chin unauffällig gefolgt, hat seine Routine studiert, wollte sich an ihm rächen. Er wollte einen guten Moment abpassen, um ihn zu töten, gibt Fred Chin heute unumwunden zu. Er hat es sein lassen. Einige Jahre später kam sein Folterknecht gemeinsam mit seiner Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. „Karma“, sagt Chin trocken.

Es hat lang gebraucht, bis Fred Chin über das Erlebte sprechen konnte. Erst in der Pension vernetzte er sich mit ehemaligen Gefangenen und wurde aktiv im Erinnern an die Vergangenheit. Er war auch daran beteiligt, aus dem ehemaligen Gefängnis Jing-Mei, das manche Regierungsverantwortliche dem Erdboden gleichmachen wollten, eine Gedenkstätte zu machen. Heute ist es das nationale Menschenrechtsmuseum. Noch immer wissen viele in Taipeh nicht genau, wo es liegt, selbst Taxifahrer:innen verfahren sich auf dem Weg dorthin.

Die junge Generation hingegen zeigt mehr Interesse. Eltern wollen, dass ihre Kinder etwas über die Menschenrechte erfahren, und die Geschichte ihres Landes, das sie einst mit Füßen trat. Auch im öffentlichen Diskurs ist diese Zeit wieder stärker im Fokus, ob in Musikvideos, Ausstellungen oder Filmen. Fred Chins Laune steigt sichtlich, als er eine Gruppe Volksschüler:innen trifft, die mit ihren Arbeitszetteln durch die Korridore gehen. Er rechnet es ihren Eltern hoch an, dass sie ihren Nachwuchs herschicken, um zu lernen. Er freut sich über die jungen Besucher:innen. „Sie sollen wissen, dass sie Rechte haben und dass es nicht in Ordnung geht, wenn sie jemand schikaniert.“ An diesem Ort sollen sie lernen, sich vor Bullys zu schützen. Einem Ort, der sie davor warnen soll, was alles passieren kann, wenn man nicht aufpasst, wenn man die Augen verschließt und einen Bully einfach gewähren lässt.

QOSHE - Taiwans dunkles Vermächtnis - Solmaz Khorsand
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Taiwans dunkles Vermächtnis

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24.03.2024

Es hat etwas Unheimliches, sich von Fred Chin auf dem Gelände des ehemaligen Jing-Mei-Gefängnisses herumführen zu lassen. Jenem Ort, an dem er vor 53 Jahren eingesperrt war. An dem er gefoltert wurde. Wo ihn seine Folterknechte so lang verprügelten, bis er Blut erbrach – und sie ihn zwangen, das Blut vom Boden zu lecken. Wo sie ihn kopfüber hingen, Salzwasser in den Mund gossen, bis er gestand, ein Terrorist zu sein. Dem Ort, an dem er versuchte, sich das Leben zu nehmen. „Das ist ein trauriger Ort, aber er kann mir nichts mehr anhaben“, sagt der 76-Jährige nüchtern. Er geht zügig über das Areal und spricht schnell. Er hat keine Hemmungen zu erzählen, das Trauma zu rekapitulieren. Nicht mehr.

Dieser Ort, im Süden Taipehs, gehört zu Taiwans dunklem Vermächtnis. Es passt nicht ganz zum Image der progressiven Pazifikinsel. Eine Musterdemokratie, ein Chipgigant, ein sicherer Hafen für verfolgte Hongkonger:innen, Uigur:innen und Tibeter:innen. Kurz: eine Vorzeigenation und das eindeutige Gegenbeispiel zum großen Nachbarn China, das in Taiwan eine abtrünnige Provinz sieht, die es lieber früher als später der kommunistischen Volksrepublik einverleiben möchte. Doch auch in Taiwan herrschte fast 40 Jahre lang ein diktatorisches System. Nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg 1949 flohen Chinas ehemaliger Präsident Chiang Kai-shek und knapp zwei Millionen Festlandchines:innen nach Taiwan. Von hier aus wollte Chiang mit seiner Nationalpartei, der Kuomintang, die siegreiche Rückkehr auf das Festland planen – und etablierte in der Zwischenzeit in Taiwan eine Einparteienherrschaft, in der Andersdenkende verfolgt, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden. Es war die Zeit des „Weißen Terrors“.

Fred Chin ist einer seiner Überlebenden. Mit 18 Jahren kam er aus Malaysia nach Taiwan. In der Stadt Tainan, im Süden der Insel, studierte er Chemieingenieurwesen. 1971 wurde er von der Geheimpolizei festgenommen, bezichtigt, in einen Anschlag involviert gewesen zu sein. „Genau hier haben sie mich verurteilt“, sagt er. Er steht im alten Militärgerichtssaal des Jing-Mei-Gefängnisses. Hier beginnt er für gewöhnlich seine Tour für alle Interessierten. Erzählt, wie er dem Richter damals entgegenwarf, dass er ihn doch zum Tod verurteilen solle, weil er nicht bereit sei, für ein Verbrechen hinter Gitter zu gehen, dass er nicht begangen hat. „Was wäre ich nach zwölf Jahren Haft? Wäre ich noch ich? Wäre ich noch normal? Dann besser gleich tot“, erzählt er. Es klingt so,........

© Wiener Zeitung


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