Hinweis: In diesem Artikel geht es um Suizid und psychische Erkrankungen. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, lies diesen Beitrag vielleicht mit einer vertrauten Person, mit der du auch unterbrechen kannst, um dich mit ihr über das Gelesene zu unterhalten.

Der Fall Lea H. ging ihm nicht aus dem Kopf: „Haben wir denn wirklich alles getan?“, fragt sich Philipp Kernmayer und präzisiert im gleichen Atemzug: „Nicht im Sinn von Einzelpersonen und ob diese die richtigen Entscheidungen getroffen haben, sondern ist systemisch alles richtig gelaufen?“ Nein, ist Kernmayer überzeugt. Sonst hätte sich die 17-jährige Lea nicht auf so tragische Weise das Leben genommen: Sie beging Suizid im Wiener AKH (die WZ berichtete).

Philipp Kernmayer ist psychiatrischer Gesundheits- und Krankenpfleger. Er hat mit Lea im AKH gearbeitet. Ihren freiwilligen, viel zu frühen Tod konnte er nicht verhindern, doch er war letztendlich der Anstoß, 2022 einen Verein zu gründen, dessen Idee sich aus den Diskussionen im AKH unter allen Berufsgruppen entwickelte: „Ganz oft ist dieser Rückschluss gekommen: ,Ich wünschte, es gäbe etwas draußen.‘“ Denn: „Ein Krankenhaus ist paradoxerweise nicht immer der gesündeste Ort, was Genesung und Heilung betrifft. Die sollte draußen im vertrauten Umfeld stattfinden.“ Mit seinem 14-köpfigen Team geht er zu den Betroffenen: „Wir schauen in die WGs der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11), zu den Privatpersonen oder wir gehen in die Schulen, wo wir die Leute in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld erleben können.“

Kernmayer weiß, dass Leas Tod nicht nur Ausdruck eines Systemversagens, „in dem keine Einzelperson zu beschuldigen ist, aber dennoch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung nicht übernommen wird und wurde“, sondern auch kein Einzelfall ist: „Das System scheint unseren Jugendlichen nicht mehr den Halt zu geben, den sie brauchen. Wir müssen anfangen, Mängel im System klar zu benennen.“ Deutliche Worte. Ausgesprochen werden sie selten, zu groß ist die Angst vor beruflichen Konsequenzen.

Dass Lea keine Ausnahme ist, bestätigen Daten aus dem klinischen Bereich in Österreich: Seit 2018 sind suizidale Gedanken und Handlungen bei unter 18-Jährigen um das Dreifache gestiegen. In Österreich sterben pro Jahr etwa 1.100 Menschen durch Suizid, 25 bis 30 davon in der Altersgruppe der unter 18-Jährigen. Im Wiener AKH erhöhte sich die Zahl der Jugendlichen, die sich nach einem Suizidversuch gemeldet haben, von 67 (2019) auf 200 (2022). Suizidgedanken finden sich bei mehr als der Hälfte (53 Prozent) der Jugendlichen, die sich in eine sogenannte Akutvorstellung begeben.

Diese Zahlen sind erschreckend. Doch warum bekommen diese Jugendlichen keine ausreichende Hilfe? Warum findet sich im Gesundheitssystem gerade für diese Menschen oftmals kein Platz? „Österreichweit sind von etwa 800 Betten, die auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie laut österreichischem Strukturplan Gesundheit verfügbar sein sollten, nur 432 vorhanden“, sagte Paul Plener, Klinikvorstand an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien und Präsident der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Vorstellung dieser Daten im September 2023. Der Grund: Fachkräftemangel.

„Schon in der Pflegeausbildung merkt man, dass das System überlastet ist.“ Zu lang dauern die intensiven Dienste, zu wenige Kolleg:innen stehen zur Seite. „Und so richtig spürt man es, wenn man ins Arbeitsleben einsteigt“, sagt Kernmayer im Gespräch mit der WZ.

Wo sieht Empowermente nun seine Aufgabe? „Die WHO sagt schon seit Jahren, dass die Zukunft in Richtung niederschwelliger Angebote gehen muss, die im Community-Rahmen stattfinden wie Community Nursing oder Community Mental Health.“ Es gäbe in Deutschland einen treffenden Begriff dazu: „Es geht um aufsuchende Hilfe. Damit jemand einmal in eine Psychotherapie kommt und dann regelmäßig hingeht, muss diese Person auf einem ganz anderen Level stabil sein. Viele Menschen schaffen nicht einmal diesen Schritt“, sagt Kernmayer.

„Früher hat die Pflege Patient:innen noch zu Hause besucht, doch das ist alles sehr zurückgefahren worden.“ Es sei die Ur-Kompetenz der Pflege, inklusive der psychiatrischen Krankenpflege, Beziehungen in gewohntem Umfeld anzubieten. Die Gefühle der Patient:innen und Kund:innen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die eigenen: „Wir waren ja auch mit Lea total frustriert: Warum hat sie sich schon wieder verletzt? Wir haben uns doch so bemüht? Diese wahnsinnige Hilflosigkeit, diese Frustration, diese Wut, die wir alle gespürt haben. Die Gefühle sind das Zentralste in der Arbeit mit Menschen. Da dürfen alle Platz haben, da gibt es keine guten und keine schlechten.“

Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.

Der Verein arbeitet geisteswissenschaftlich, psychodynamisch und auf den Grundlagen der Affektresonanz-Therapie, der psychiatrischen Pflege und Psychotherapie-Wissenschaften. „Das Ziel der Psychiatrie ist es in meinen Augen nicht, Menschen gesellschaftsfähig zu machen. Vielmehr geht es darum, dass sie ihr Leben draußen in einer gewissen Freiheit gestalten können“, beschreibt Kernmayer seine Arbeit.

Empowermente stößt aber auch an seine Grenzen. Finanziell, denn man möchte sich die Individualität und Freiheit bewahren und somit auf öffentliche Förderungen bewusst verzichten. Man lebe von Spenden, Mitgliedsbeiträgen und Aufträgen. Aber auch in der Arbeit an sich gibt es Grenzen: „Die Menschen wollen schnelle Lösungen – eine Erscheinung unserer Zeit. Psyche braucht Zeit und Entwicklung braucht Zeit.“

Und welchen Wunsch hätte Kernmayer an den Gesundheitsminister Johannes Rauch? „Bitte, bitte gehen wir weg von der Digitalisierung des Gesundheitssystems. Das wird den Menschen nicht ersetzen können. Und bitte fangen wir an, kleine Community- und Basisprojekte zu unterstützen und zu fördern. Und zwar ausreichend. Schauen wir, dass wir den Community-Mental-Health-Aspekt aufbauen. Bezahlen wir die Leute vernünftig. Wir wissen, dass das Geld da ist. Es ist nur eine Frage der Umverteilung. Weniger Flugabwehrgeschütze, dafür investieren wir ein bisschen in die Communities.“

Du bist in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchst Hilfe? Hol sie dir:

Wende dich an vertraute Menschen. Oft hilft bereits das Sprechen über die Gedanken, sie zumindest vorübergehend auszuräumen und sich anschließend gemeinsam mit der Vertrauensperson Hilfe zu holen: Hier findest du Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in deinem Bundesland sowie weiterführende Informationen zur Bewältigung dieser Notsituation. Auch die Telefon-Seelsorge unter der Rufnummer 142, Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche unter der Telefonnummer 147 und die Ö3-Kummernummer unter 116 123 helfen weiter.

QOSHE - Ein Privatverein als Hoffnungsträger für Suizid-Gefährdete - Verena Franke
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Ein Privatverein als Hoffnungsträger für Suizid-Gefährdete

16 0
13.03.2024

Hinweis: In diesem Artikel geht es um Suizid und psychische Erkrankungen. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, lies diesen Beitrag vielleicht mit einer vertrauten Person, mit der du auch unterbrechen kannst, um dich mit ihr über das Gelesene zu unterhalten.

Der Fall Lea H. ging ihm nicht aus dem Kopf: „Haben wir denn wirklich alles getan?“, fragt sich Philipp Kernmayer und präzisiert im gleichen Atemzug: „Nicht im Sinn von Einzelpersonen und ob diese die richtigen Entscheidungen getroffen haben, sondern ist systemisch alles richtig gelaufen?“ Nein, ist Kernmayer überzeugt. Sonst hätte sich die 17-jährige Lea nicht auf so tragische Weise das Leben genommen: Sie beging Suizid im Wiener AKH (die WZ berichtete).

Philipp Kernmayer ist psychiatrischer Gesundheits- und Krankenpfleger. Er hat mit Lea im AKH gearbeitet. Ihren freiwilligen, viel zu frühen Tod konnte er nicht verhindern, doch er war letztendlich der Anstoß, 2022 einen Verein zu gründen, dessen Idee sich aus den Diskussionen im AKH unter allen Berufsgruppen entwickelte: „Ganz oft ist dieser Rückschluss gekommen: ,Ich wünschte, es gäbe etwas draußen.‘“ Denn: „Ein Krankenhaus ist paradoxerweise nicht immer der gesündeste Ort, was Genesung und Heilung betrifft. Die sollte draußen im vertrauten Umfeld stattfinden.“ Mit seinem 14-köpfigen Team geht er zu den Betroffenen: „Wir schauen in die WGs der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11), zu den Privatpersonen oder wir gehen in die Schulen, wo wir die Leute in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld erleben können.“

Kernmayer weiß, dass Leas Tod nicht nur Ausdruck eines Systemversagens, „in dem keine Einzelperson zu beschuldigen ist, aber dennoch eine........

© Wiener Zeitung


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